Gedenkbuch 2013

Hermann André
Therese André geborene Heidt
Berta Katz geborene André

Dr. Rudolf Wagemann, Kornelimünster

Als Hermann André am 7. November 1872 in Kornelimünster, Landkreis Aachen, geboren wurde, war seine Familie schon über 100 Jahre dort ansässig. Seine Eltern waren Abraham André, geboren 1838, gestorben 1907 in Kornelimünster, und Bertha André, geborene Kaufmann, geboren 1841, gestorben 1899 ebenfalls in Kornelimünster.

Hermann hatte zwei ältere Brüder: Karl-Josef, geboren im Jahr 1867, und Norbert, geboren 1869, sowie eine jüngere Schwester Rosalia, die 1875 geboren wurde. Sein Vater Abraham hatte erst kurz zuvor das Anwesen in der Trierer Straße 123, heute Korneliusstraße 15/17, gekauft, welches bis nach 1930 der Wohnsitz der Familie André bleiben sollte. Die Lage am Rand des engen Ortszentrums und an der damaligen Hauptstraße begünstigte die Ausübung des traditionellen Familiengewerbes, der Metzgerei und des Viehhandels. Die Landwirtschaft sollte erst später dazukommen.

Obschon das uralte Kornelimünster eine verhältnismäßig große Jüdische Gemeinde hatte - die Statistik des Landkreises nennt für die Zeit um 1870 mehr als 50 jüdische Bürger - ist von einer jüdischen Schule nichts bekannt. Also dürfte Hermann die katholische Volksschule in Kornelimünster besucht haben, die in die seit 1876 existierende, katholische Lehrerbildungsanstalt integriert war.

Der weitere Weg war für einen jungen Mann seiner Zeit und Herkunft vorgegeben: Lehre im elterlichen Betrieb, anschließend hatte man im Alter von 20-22 Jahren den bei jüdischen Bürgern aus gutem Grund meist nicht besonders geliebten Rock des Kaisers zu tragen, das heißt, den Militärdienst abzuleisten. Natürlich war der Kaiser selbst ein verehrter Mann. Er hatte sogar jüdische Freunde, zum Beispiel den Reeder Albert Ballin, den Schöpfer der modernen und äußerst erfolgreichen, deutschen Passagierschifffahrt. Trotzdem: Beim Militärdienst gab es erheblichen versteckten und auch offenen Antisemitismus, der sich oft genug in üblen Schikanen äußerte.

Nachdem bereits im Jahr 1899 die Mutter Bertha verstorben war, starb 1907 Hermanns Vater Abraham. Damit wurde die Frage eines eigenen Hausstandes dringlich. Fast auf den Tag zwei Jahre nach dem Tod des Vaters heiratete Hermann André am 31. Oktober 1909 die 15 Jahre jüngere Therese Heidt, geboren am 6. Januar 1887 in Fischenich, heute ein Stadtteil von Hürth bei Köln. Therese Heidt entstammte einer bis nach Köln hinein angesehenen jüdischen Metzgerfamilie. Am 2. August des Folgejahres 1910 wurde die Tochter Berta in Kornelimünster geboren. Die Namenswahl sollte die Erinnerung an die vor über zehn Jahren so früh verstorbene Mutter beleben.

Nur wenige Monate nach der Geburt des zweiten Kindes, des Stammhalters Ernst, geboren am 7. April 1914 in Kornelimünster, brach der Erste Weltkrieg aus. Der junge Vater musste Familie, Hof und Geschäft verlassen, um in den Krieg zu ziehen. Soweit bekannt, kehrte er unversehrt zurück. Da stand die linksrheinische Heimat unter strenger belgisch/französischer Militärherrschaft, was die Erholung der kriegsbedingt danieder liegenden Wirtschaft zusätzlich erschwerte. Vor allem aber tauchten damals bereits immer häufiger Stimmen auf, welche „Die Juden" für Deutschlands Niederlage von 1918 und den „Schandfrieden von Versailles" verantwortlich zu machen versuchten.

Die Kinder Berta und Ernst waren mittlerweile im schulfähigen Alter. Nicht zuletzt auf Grund der bereits im Krieg offenbar gewordenen unzureichenden Ernährungssituation in Deutschland baute Hermann André seine Landwirtschaft weiter aus. Nach Aussagen von Zeitzeugen war er ein hervorragender Landwirt. Seine Arbeit und Mühe wurden belohnt. Mit dem Ende der 1920er Jahre hatte sich sein Betrieb soweit entwickelt, dass ihm das elterliche Anwesen in der Enge des Tales zu klein geworden war. Außerdem deutete sich an, dass die bereits Mitte der 1920er Jahre geplante Führung der damaligen Reichs- und heutigen Bundesstraße 258 um den verwinkelten, alten Ortskern herum, auch Teile seiner Hauswiesen beanspruchen, beziehungsweise den Zugang dahin erheblich erschweren würde.

Trotz der Weltwirtschaftskrise von 1929, die besonders Deutschland fest im Griff hatte, wagte sich Hermann André an den Bau eines neuen Hofes an der Dorffer Straße, der zu Anfang der 1930er Jahre, als einer der ersten Aussiedlerhöfe in Kornelimünster, bezugsfertig wurde.

Obschon in jenen Jahren der offene Straßen- und Pressekampf zwischen den vor allem im Kohlerevier nördlich von Aachen starken „Kommunisten" und den „Nazis" oder „Hitlers" eskalierte, hatten die Menschen kaum mit der Machtübernahme der NSDAP in Deutschland am 30. Januar 1933 gerechnet. Dazu schien, im ländlichen, linksrheinischen Gebiet, besonders im südlichen Landkreis Aachen, die politische Vorrangstellung des Zentrums, der katholischen Partei, zu stark.

Alsbald wurde auch die Erinnerung an die heute als „Judenschlacht" bekannte Massenschlägerei in Kornelimünster im Sommer 1926 wieder lebendig. Seiner Zeit hatten, so die Gemeindechronik, vorwiegend jüdische Viehhändler das noch kleine Häuflein von Nazis und ihren, berühmt-berüchtigten Propagandaredner, Dr. Robert Ley, wegen seiner wilden antisemitischen Hetzrede tätlich angegriffen. Ja, man hatte versucht, Ley, nach 1933 einer der führenden Politiker des Nationalsozialismus, der 1926 mangels Saal im Freien sprechen musste, von der Umfassungsmauer des Promenadenweihers, auf die er sich zum Reden gestellt hatte, ins Wasser zu stoßen.

Im Gegenzug hatten sich die Nazis, laut der Tageszeitung „Echo der Gegenwart" vom 15. Juli 1933, kurz nach der Machtübernahme, drei der im Jahr 1926 beteiligten Juden gegriffen, nach Köln zum Verhör gebracht und ihnen einen Vorgeschmack auf die spätere Brutalität des Regimes gegeben, bevor sie nach mehrtägiger Haft entlassen wurden.

Einiges spricht dafür, dass Hermann André einer der Drei gewesen ist, sicher ist das jedoch nicht. Diese Verhaftung gehörte sozusagen zum Rahmenprogramm einer im Juli 1933 von der NSDAP veranstalteten, bombastischen Gedenkfeier jenes Zwischenfalls von 1926. Dass der Brand eines Andréschen Viehstalls an der Venwegener Straße am 9. September 1933 ein Racheakt der Nazis war, ist nicht auszuschließen.

Nun erwies sich, dass Hermann André einen sehr richtigen Schritt getan hatte bei seinem verstärkten Einstieg in die Landwirtschaft. Mit einer schnellen Abfolge von Gesetzen und Verordnungen wurde dem jüdischen Viehhandel und Metzgergewerbe der Garaus gemacht. Den großen Viehmarkt am Montag nach Abschluss der Kornelioktav im September, durften ab 1936 jüdische Viehhändler nicht einmal mehr betreten. Es sollte jedoch noch viel schlimmer kommen.

Gerade zwei Jahre später, am 9. November 1938, folgte als weiterer grausamer Höhepunkt die Reichspogromnacht: Die Synagogen wurden in Brand gesteckt und die jüdischen Geschäfte geplündert. Vor allem wurden in gezielter Aktion deutschlandweit jüdische Bürger verhaftet und in die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen gebracht.

Wenn auch "in Kornelimünster keine jüdischen Geschäfte waren und deshalb keine Plünderungen berichtet wurden" - so der Wortlaut der Gemeindechronik - so war doch vor allen anderen das einsam gelegene Andrésche Anwesen, Dorffer Straße 33, das Ziel von Nazi-Randalierern. Diese kamen am Abend des 9. November im Schutz der Dunkelheit mit einem offenen Lieferwagen. Vor dem Haus der Familie André haltend warfen sie schwere Pflastersteine von der Ladefläche in die Fenster, so dass nicht nur die Fensterscheiben, sondern auch die Rollläden und die Fensterrahmen zu Bruch gingen. So lautete der Bericht eines Zeitzeugen, der mit seinem Vater vom circa 100 Meter entfernten Nachbarhof aus den Überfall verfolgt hatte. Am Folgetag, dem 10. November, wurde der André-Sohn Ernst festgenommen. Er wurde nach Aachen gebracht, von wo er mit einem Sammeltransport von gleichfalls festgenommenen jüdischen Bürgern nach Buchenwald gebracht wurde. Nach circa zwei Wochen sandte ihm seine Schwester Berta Geld für die Rückfahrt mit der Eisenbahn. Er schlug sich bis in die Heimat durch. Kurz nach seiner Heimkehr floh Ernst André über die nahe Grenze nach Belgien und fand zunächst in Antwerpen Aufnahme.

Im Frühjahr 1939 lebten in Kornelimünster nur noch fünf jüdische Bürger. Außer Leopold und Isabella Kaufmann waren dies Hermann und Therese André sowie deren Tochter Berta Katz. Diese hatte seit ihrer Hochzeit mit Siegfried Katz im März 1931 in Köln gelebt. Da sie sich ohnehin scheiden lassen wollte, war sie Ende 1938 nach der Flucht ihres Bruders als Stütze der Eltern in der Landwirtschaft wieder ins elterliche Haus gezogen.

Als zur Jahresmitte 1941 für die Andrés als letzte jüdische Bürger die Aufforderung der Gestapo kam, ihren Hof zu räumen und sich mit notwendigstem Gepäck zum Lager Hergelsmühle in Aachen-Haaren zu begeben, hatte Hermann André schon länger sein gesamtes Großvieh verloren. Die zuständige Behörde hatte ohne zwingenden Grund, wohl aus Schikane, nach dem Ausbruch der Maul- und Klauenseuche die Notschlachtung verfügt. Wegen damals noch nicht vorhandener Medikamente gegen diese Seuche war es üblich, die befallenen Tiere bis zum Abklingen der Seuche auf dem eigenen Anwesen in Quarantäne zu isolieren.

Das Ausharren auf seinem Besitz in Kornelimünster bis 1941 unter derart widrigen Umständen zeugt von Hermann Andrés Hartnäckigkeit. Nun aber, da ihm der geliebte neue Hof genommen werden sollte und ihm jeder weitere Widerstand sinnlos schien, brach der aufgestaute Groll aus ihm heraus. Nachdem er Teile seiner Arbeitsgeräte an Nachbarn und Bekannte verschenkt hatte, zerstörte er den Rest, damit er nicht denen in die Hände fiel, die ihm seinen Besitz und seine Existenz, schlicht alles geraubt hatten. Die Gemeindechronik schreibt lakonisch: "Der Andrésche Hausrat wurde versteigert und das Land verpachtet."

So lebten ab Jahresmitte 1941 Hermann und Therese André unter entwürdigenden Verhältnissen in einem kleinen Raum eines Lagers am Ortsrand von Haaren, das den beschönigenden Namen „Hergelsmühle" trug. Hermann André war mit seinen fast 70 Jahren ein gebrochener alter Mann. Während Therese André nachweislich noch einige Male nach Kornelimünster kam, weil sie ihren verlorenen Hof, in den zwei kinderreiche Familien eingewiesen worden waren, wenigstens noch einmal von außen ansehen wollte, ist nicht bekannt, ob Vater oder Tochter das auch taten. Nicht einmal sicher konnten sie nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die westlichen Nachbarländer im Mai 1940 sein, dass Sohn und Bruder Ernst gerettet war.

Tochter Berta war bereits vor den Eltern „fortgekommen", wie es allgemein hieß. Berta André, wie sie laut standesamtlicher Eintragung vom 22. September 1941 wieder hieß, wurde mit dem 1. Kölner Transport am 22. Oktober 1941 in das Ghetto von Lodz deportiert. Unabhängig wollen mehrere Kornelimünsteraner als Reichsbahnmitarbeiter beziehungsweise Soldaten sie dort gesehen und gesprochen haben.

Therese André war nach den Erzählungen von Nachbarn und Bekannten von sehr herzlicher Art. Schaute man auf einem Gang in den Ort bei André vorbei, so lud sie spontan auf eine Tasse Kaffee ein. Dass die Familie André in ihrer erzwungenen Isolation nicht vergessen wurde, bezeugen etliche Namen von Mitbürgern, die die gewollt schlechte Versorgungslage jüdischer Bürger mit Lebensmittelmarken, gerade in diesem Fall durch gelegentliche Gaben nach Kräften aufbesserten. So versteckte die Bäckerstochter, Lisbeth Hamacher, Brot auf dem katholischen Friedhof, welches dann von André, im Schutz der Dunkelheit, abgeholt wurde.

Selbst nach der Überführung in das Lager Hergelsmühle wurde von einem ehemaligen Nachbarn, dem Metzger Viktor Holtz, der damals 14 Jahre alte Josef Deserno mit Lebensmitteln zu einem Treffpunkt in der Umgebung des Lagers geschickt, wo er diese an Frau André weiterreichte. Die Lebensmittel waren zur Tarnung in einer damals gebräuchlichen Milchkanne verstaut. Nach einigen derartigen Botengängen hatte Frau André Josef Deserno gebeten, fortan nicht mehr zu kommen, weil die Gaben zu viel böses Blut unter ihren Mitinsassen machten.

Frau André hat die Hoffnung auf ein besseres Leben auch in der Hergelsmühle nicht sinken lassen. Mehrfach soll sie selbst dort noch geäußert haben, dass sie und ihr Mann „im Osten" wieder eine eigene Landwirtschaft erhalten würden. Statt einer neuen Existenz hielt das Schicksal für Hermann und Therese André nur noch Leiden und Tod bereit. In ihrem Fall ist nicht einmal das Todesdatum bekannt. Vor der Deportation wurden Hermann und Therese André von der Hergelsmühle in das Lager Stolberger Straße in Eschweiler verlegt, im Volksmund „Zigeunervilla" genannt. Mit dem Transport VII/2 erreichten sie von Aachen aus am 25. Juli 1942 Theresienstadt, von wo am 21. September 1942 der Weitertransport in das Todeslager Treblinka bei Lublin erfolgte. Ihre Mörder ließen sie für die Fahrt in den Tod auch noch die Fahrkarten bezahlen.

Hermann und Therese André wurden vermutlich in Treblinka ermordet. Wo und wie Tochter Berta zu Tode kam, ist nicht bekannt.

Ernst André überlebte den Krieg und kehrte im August 1945 nach Aachen zurück. Er starb am 28. Oktober 1961 und wurde auf dem jüdischen Friedhof an der Lütticher Straße beerdigt.

Er ließ für seine Eltern und seine Schwester Berta einen Gedenkstein auf dem Jüdischen Friedhof in Aachen-Kornelimünster errichten.

Vgl. Jaud, Ralf: Der Landkreis Aachen in der NS-Zeit, Frankfurt/Main 1997. Vergleiche die Biographien von Isabella und Leopold Kaufmann im Gedenkbuch 2008.