Es geschah vor jedermanns Tür

Von Wolfgang Schumacher

Auch in Aachen wurden viele jüdische Bürger Opfer der Nazis. Bei einem bewegenden Abend auf der Burg Frankenberg gingen die Teilnehmer auf Spurensuche im Frankenberger Viertel.

Aachen 1938, vor jetzt 80 Jahren, da begann mit den November-Pogromen die systematische Judenverfolgung durch die Nazis, die mit der Vernichtung von insgesamt etwa sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens in den Vernichtungslagern endete. Die furchtbare Zeit der Shoah spielte sich damals vor jedermanns Tür ab, wie Bettina Offergeld, die langjährige Akteurin des Aachener Gedenkbuchprojektes, am Donnerstag auf der Burg Frankenberg nachdrücklich und anschaulich schilderte.

Voll war daher der Veranstaltungssaal der Burg Frankenberg, etwa 100 Zuhörer waren zum Themenabend "1933-1944, jüdisches Leben im Frankenberger Viertel – eine Spurensuche" gekommen, vielen war angesichts des aktuellen politischen Erstarkens rechtsradikaler Kräfte Ihr Erscheinen bei dieser Veranstaltung an diesem Abend einfach ein Muss.

Nur 563 überlebten

Der von Dietrich Brandt moderierte Abend widmete sich über mehr als zweieinhalb Stunden drei Bereichen: den von Verleger Walter Hörner vorgestellten jüdischen Autoren des kleinen Rimbaud-Verlags, dem Aachener Gedenkbuchprojekt mit der Vortragenden Bettina Offergeld und am Ende einer hoch interessanten Schilderung jüdischen Fabrikantentums vor allem im blühenden Frankenbergerviertel mit seiner gehobenen Bürger- und Beamtenschicht. Letzteres trug Andreas Lorenz vom Tuchwerk Aachen e.V. vor, der akribisch die Tätigkeit und letztlich die Vertreibung der zahlreichen jüdischen Tuchunternehmer schilderte.

Von den etwa 2000 jüdischen Bürgern der Aachener "Synagogengemeinde" – hier wird der Ausdehnungsbereich des Jahres 1933 zu Grunde gelegt – wurden bis 1945 laut Offergeld 841 Menschen jüdischen Glaubens ermordet, bei 446 gibt es keine Informationen über ihren Verbleib, 150 starben eines natürlichen Todes, und nur 563 überlebten die Verhaftungswellen in Aachen.

Bisher 170 Biografien

Als man im Jahr 2005 das erste Gedenkbuch publizierte, erinnert sich Offergeld, waren es fünf Biografien jüdische Opfer, die man zusammen getragen hatte. Heute ist man beim vierten Band und rund 170 Biografien weiter, eine erstaunliche Leistung, die dazu bei trägt, dem Schicksal der ermordeten Menschen ein Gesicht zu geben. Die nüchternen Zahlen für Frankenberg sind erschütternd, auch hier möge niemand behaupten, nichts von alledem bemerkt zu haben. 403 jüdische Menschen waren in der Zeit zwischen 1933 bis 1945 ansässig im Gründerzeitviertel, 134 wurden ermordet, von 104 ist nichts bekannt, 130 überlebten Verfolgung und Krieg. Immer dann, wenn Offergeld persönliche Schicksale anreist wie etwa das von Salomon und Henriette Weisbecker, die erst 1938 vom Bergdriesch in die Oppenhoffallee umgezogen waren, wird das Grauen persönlich erlebbar. Sei es Erna Baum aus der Viktoriaallee oder Emma Hartoch, die im April 1941 in den so genannten Judenhäusern eingepfercht und dann 1942 in Treblinka ermordet wurde, oder Isidor Lautmann den man nach Sobibor brachte. Sie alle wurden aus einem erfüllten Leben in einem wohlhabenden Viertel gerissen, enteignet, weggeschafft und am Ende ermordet.

Nur wenigen (meist Wohlhabenden) gelang die schwierige Flucht entweder nach Übersee oder manches Mal auch ins nahe Brüssel, hier gab es wie auch anderswo überzeugte Helfer, die Menschenleben retteten.

Über die oft wohlhabenden Tuchfabrikanten berichtete Andreas Lorenz. Aachen ab den 1850er Jahren sei eine boomende Stadt gewesen, Tuch– und Garnfabriken jeder Größe seien ansässig gewesen, Händler wie Großhändler aus der gesamten Rheinregion hätten sich dort niedergelassen.

Gerade die Schneiderei in kleinen und großen Werkstätten habe traditionell oftmals in jüdischer Hand gelegen. Aus jenen Schneidereien entwickelten sich gerade entlang der Schiene Bach-, Brabant-, Luisen- und Viktoriastraße staatliche Tuchfabriken. Insgesamt seien in Aachen 188 Betriebe von den Nazis "arisiert" worden, wie es damals hieß, 247 Immobilien wechselten zwangsweise den Besitzer, darunter viele Bürgerhäuser im Frankenberger Viertel, Wert insgesamt rund 55 Millionen Reichsmark, wer floh, musste sogar noch eine "Reichsfluchtsteuer" entrichten.

Lorenz warf auch ein Licht auf die Nachkriegszeit. "Es war für die Fabrikanten schwierig, ihre Häuser und ihr Vermögen zurückzubekommen", stellte Lorenz fest. Insbesondere deutsche Gerichte hätten sich dem oftmals gesperrt, heute weiß man, dass die Nachkriegsjustiz noch durch und durch mit Nazi-Richtern durchsetzt war.

"Ich vergesse nicht"

Der Auftritt von Verleger Walter Hörner (Rimbaud-Verlag) war angesichts all des Elends und der Erinnerung an die barbarische Naziherrschaft eine kraftgebende halbe Stunde der Besinnung und der mächtigen Wirkung des Wortes. Denn Hörner las Gedichte der jüdischen Lyrikerin Rose Ausländer ("Ich vergesse nicht") und des "dichtenden Bauers", wie Hörner seinen Freund titulierte, Moses Rosenkranz, Zeilen der Versöhnung wie des unbändigen Überlebenswillens, die Hoffnung schufen.

Quelle: Aachener Zeitung, 20.10.2018