Antisemitismus und Rassismus widerstehen
von Rudi Schroeder
Bewegende Gedenkfeier in der Citykirche zum 80. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. „Nie wieder ist jetzt“ muss das Motto sein, um gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft vorzugehen.
„Erinnerung als Ermutigung, dem Antisemitismus und Rassismus zu widerstehen.“ Und: „Wer des Vergangenen nicht gedenkt, verliert die Orientierung in der Gegenwart. Wer sich erinnert, wird alles tun, dass das nicht wieder geschieht.“ Mit diesen Einführungsworten eröffnete der evangelische Pfarrer Martin Obrikat am Sonntagnachmittag vor 150 Besuchern in der Citykirche Aachen die Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Die drei Konzentrationslager waren am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit worden. Die Nationalsozialisten hatten bis zu diesem Zeitpunkt dort 1,1 Millionen Menschen, unter ihnen mehr als 900.000 Jüdinnen und Juden, umgebracht. Insgesamt ermordeten die Nazis und ihre Kollaborateure während des NS-Regimes sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens: durch Genick, Kopf- und Massakerschüsse, Erhängung, Vergasung, Stehhaft, Giftinjektionen, Erstickung, Verbrennung, medizinische Experimente ...
Primo Levi, der italienische Literat und Friedensnobelpreisträger, schrieb vielsagend: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“ Unter diesem Eindruck zwischen Erinnerung, Jetztzeit und Mahnung geriet die zweistündige Gedenkfeier zu einer zutiefst bewegenden Veranstaltung: mit Gebeten, Psalmen, bemerkenswert kritischen Ansprachen und Aussagen, dem Verlesen von Biografien Aachener Bürger, die in Auschwitz ihr Leben ließen, und einem musikalischen Rahmen, gesetzt durch die Klezmer-Band „Dance of Joy“ sowie Rebecca Or, die es verstanden, mit ihren Einlagen Trauer, Schwermut, aber auch Glück und Leichtigkeit, vor allem Nachdenklichkeit auszulösen.
Was Martin Obrikat angerissen hatte, führte Bürgermeisterin Hilde Scheidt in ihrem Grußwort fort: Mit der Befreiung des Vernichtungslagers vor 80 Jahren sei „zum ersten Mal sichtbar geworden, was wirklich geschehen ist“. Als 16-Jährige sei sie damit erstmalig konfrontiert worden und bei ihren Nachfragen überwiegend auf Schweigen gestoßen. Seither versuche sie stets dagegen anzugehen, dass Menschen verachtet und diskriminiert werden. „Wir erleben eine Zeit, in der es möglich ist, vor einem Millionenpublikum bei der Amtseinführung eines Präsidenten den Hitlergruß zu zeigen ... Der Rechtsruck macht mich angst und bange um die Demokratie, sie ist kippelig geworden. Aber, ich freue mich, dass zuletzt in Aachen und jetzt auch in Köln Zehntausende auf die Straße gegangen sind.“ Wichtig sei es, die Erinnerung, die wir mutigen Menschen verdankten, weiterzugeben an die Jüngeren, die sich sehr interessiert zeigten, Erinnerungen an Menschen, die mit ihrer Courage auch in den 1930er und 1940er Jahren widersprochen hätten. Die Lehre daraus: „Jeder und jede hat die Möglichkeit, sich zu wehren und die Demokratie zu schützen.“
Die Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Aachen (DIG), Elisabeth Paul, bezeichnete Auschwitz als „das Symbol für den kaltblütigen Massenmord an Juden und Jüdinnen“. Die grausame Vorgeschichte und dramatische Entwicklung, die 52 Jahre dauerte, habe begonnen mit Ausgrenzung, Verfolgung, Boykott „all jener Menschen, die nicht ins perverse Menschenbild der Nazis passten“. Deshalb gelte heute, es nicht bei den richtigen und wichtigen Slogans wie „Wehret den Anfängen“ oder „Nie wieder ist jetzt“ zu belassen, sondern Widerstand zu leisten. „Die Wahlerfolge der Rechten zeigen, dass ihre Ideologie in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Gegen Rassismus und Antisemitismus müssen viele Menschen in ganz Deutschland aufstehen und vorgehen“, sagte Paul. Der Holocaust sei mit nichts vergleichbar. Gleichwohl, so die DIG-Vorsitzende, müsse man feststellen, was seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 geschehen sei: Der Antisemitismus nehme zu, linksextreme Gruppierungen solidarisierten sich mit islamistischen Terroristen, Rechtsradikale verbündeten sich zum Schein mit den Opfern, während die AfD Naziparolen verbreite und das NS-Regime als „Vogelschiss in der Geschichte“ bezeichne.
Große Aufmerksamkeit und noch mehr Betroffenheit erzeugten die Lesungen von Biografien ehemaliger Aachener Bürger jüdischen Glaubens, die in Auschwitz ermordet wurden. Bettina Offergeld, Eva Offergeld und Günter Müller vom „Gedenkbuchprojekt für die Opfer der Shoa aus Aachen“ zeichneten skizzenhaft die Wege von Henriette Weisbecker, Adolf und Gertrud Rosenthal und der Familie Weinhausen nach. Deren Leben war nach 1933 geprägt durch stete Verfolgung, Entmenschlichung, unfassbare Schicksalsschläge durch den Tod vieler Familienmitglieder, Gewalt- und Fluchterfahrungen. All dies mündete in ihre Vernichtung im Lager Auschwitz-Birkenau.
Die Lebensläufe sind in einem Gedenkbuch nachzulesen, dessen erste Ausgabe 2005 erschien, und das auf der Basis von Zeitzeugengesprächen kontinuierlich fortgeschrieben wird. Nach dem offiziellen Teil luden Gastgeberin Pfarrerin Sylvia Engels, Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, Pfarrer Martin Obrikat und Albert Sous, der bekannte Künstler und Goldschmied, zum Gespräch ein. Sous hatte schon zu Beginn der Gedenkfeier die Stühle „in dialogischer Weise“ aufstellen lassen. Beim Samowar, einander gegenübersitzend oder beieinander am Büchertisch stehend waren sich alle einig: Nie wieder ist jetzt!
Quelle: Aachener Zeitung, 27.1.2025