Ein Fest mit nachdenklichen Tönen

von Rauke Xenia Bornefeld

Seit 75 Jahren regelt das Grundgesetz das Zusammenleben in unserem Land. In Aachen wird der Jahrestag mit der Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus gefeiert.

Geburtstage werden gemeinhin fröhlich gefeiert. Die Organisatoren des Fests anlässlich des 75. Jahrestags des Inkrafttretens des Grundgesetzes lassen die Pauken und Trompeten aber zu Hause. Sie stimmen lieber nachdenkliche Töne an. „Wir wollen darauf hinweisen, was der Verlust der Demokratie anrichten kann“, sagt Norbert Greuel vom Projekt „Platz für Demokratie“ der Bürgerstiftung Lebensraum Aachen. „Deshalb haben wir den Kontakt zum Gedenkbuchprojekt für die Opfer der Shoah aus Aachen gesucht.“ Rund 1000 Aachener Opfer des Nationalsozialismus bekommen beim Fest am Samstag, 25. Mai, von 14 bis 16 Uhr im Elisengarten einen Namen und – sofern noch ein Foto existiert – ein Gesicht.

„Die Klammer der Aktion ist Artikel 3 des Grundgesetzes: ‚Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden‘“, erläutert Bettina Offergeld, Vorsitzende des Gedenkbuchprojekts. „Auch wenn leider queere Menschen hier bisher nicht genannt werden – das Grundgesetz stellt all die Menschen unter Schutz, die in der Nazi-Diktatur verfolgt wurden. Das Grundgesetz beinhaltet die Werte, die eine Diktatur verhindern kann.“ Und Greuel ergänzt: „Wenn wir Ausgrenzung von Menschen hinnehmen, ist das immer ein Angriff auf die Demokratie insgesamt. Das wollen wir mit dem Erinnern deutlich machen.“

Im Elisengarten werden deshalb nicht nur Plakate mit den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes aufgestellt, sondern auch Leinen gespannt. An ihnen hängen Schülerinnen und Schülern der Maria-Montessori-Gesamtschule, des St. Leonhard-Gymnasiums und der Viktoriaschule Porträts von 1000 Aachener Opfern des Nazi-Regimes auf. Erinnert wird so an Juden, Sinti und Roma, Zwangsarbeiter, Euthanasieopfer, politisch Verfolgte, Homosexuelle und Zeugen Jehovas, von denen in Aachen allerdings niemand zu Tode kam. Sie passten nicht in das menschenunwürdige Menschenbild der Nazis und wurden deshalb ermordet.

Zwischen Reden von Elisabeth Paul, Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Aachen, Martin Schulz, ehemaliger Präsident des EU-Parlaments, und Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen werden ausgewählte Biografien der einzelnen Opfergruppen vorgelesen. Violinistin Johanna Schmidt sorgt für die musikalische Begleitung der zweistündigen Geburtstagsfeier. Um die Sicherheit macht sich Greuel trotz wachsendem Antisemitismus und Extremismus von vielen Seiten nur wenig Sorgen. „Wir haben zwar der Polizei Bescheid gegeben, damit sie unsere Veranstaltung auf dem Schirm hat. Aber wir werden nicht auf die aktuelle Situation in Gaza und Israel eingehen. Wir bieten als Alternative zu Pro oder Contra die Menschenwürde.“

Es ist das erste Mal, dass in Aachen gleichzeitig an alle Opfergruppen gedacht wird. Dafür hat Offergeld weitere in der Erinnerungsarbeit Engagierte für die Aktion gewinnen können – von der Stolberger Gruppe Z, die Spuren ermordeter Sinti und Roma aus der Region recherchiert, bis zu einer Schulklasse der Roda-Schule in Herzogenrath, die dem Schicksal von Euthanasieopfern nachspürte. Offergeld findet, dass sich der Geburtstag des Grundgesetzes für ein gemeinsames Gedenken hervorragend eignet, denn er eröffne den Blick in die Zukunft: „Zurückschauen reicht nicht. Wie Michel Friedmann im Rahmenprogramm des Karlspreises richtig gesagt hat: ‚Das Gegenteil von Hass ist Respekt.‘ Und genau das fordert das Grundgesetz ein.“

Quelle: Aachener Zeitung, 14.5.2024