Auf der Spur der verlorenen Leben
Das Gedenkbuchprojekt trägt die Biografien der jüdischen Aachenerinnen und Aachener zusammen, die von Nazis ermordet worden. Programm zum Gedenken an die Pogromnacht.
Aachen. Clementine Katzenstein führt in Aachen ein gut bürgerliches Leben. Im Haus 43 des Albert Steinweg betreibt die Jüdin seit mehr als 20 Jahren ein Schuhgeschäft. Dort wohnt sie auch mit ihrem Mann Libanon. Die kinderlose Ehe gilt als glücklich. Ende 1938 Ändert sich das radikal. Kurz nach der Pogromnacht am 9. November wird die Familie zwangsenteignet, ihr Geschäft "arisiert". Der Lebensgrundlage beraubt, fliehen Clementine und ihr Mann nach Brüssel. Doch kurze Zeit später, im Mai 1940, besetzen deutsche Truppen Belgien. Wieder sieht sich das Ehepaar verfolgt. Nach dem krankheitsbedingten Tod von Livorno versucht Clementine unterzutauchen. Die belgische Widerstandsbewegung will sie in einem Kloster verstecken. Der Plan scheitert jedoch, Clementine wird verraten und am 10. Oktober 1942 nach Ausschwitz deportiert. In dem Vernichtungslager verliert sich die Spur der zu diesem Zeitpunkt 67 Jahre alten Aachenerin.
Die Schweiz macht Grenzen dicht
In Ausschwitz wird auch Erika Ganz ermordet. Die 1911 geborene Jüdin stammt aus einer Aachener Tuchmacherfamilie, die zunächst an der Kaiserallee 81 (heutige Oppenhoffallee), später dann an der Eupener Straße 249 wohnt. Nachdem auch der Besitz ihrer Familie "arisiert" wird, zieht die junge Frau nach Berlin. Möglicherweise glaubt sie, dass in der Hauptstadt der Verfolgungsdruck durch die Nazis geringer ist als in Aachen. Gleichzeitig versucht Erika mit Hilfe von Familienangehörigen eine Einreiseerlaubnis in die Schweiz zu erhalten. Doch die Eidgenossen winken ab, verkünden, für Flüchtlinge aus Nazideutschland sei das Boot voll. Es ist ein Todesurteil für die Aachenerin. Denn Erika wird am 1. März 1943 von Berlin aus nach Ausschwitz deportiert. Ob sie dort in einem der Unternehmen der IG Farben zunächst noch Sklavenarbeit verrichten muss oder bereits direkt nach ihrer Ankunft vergast wird, ist nicht bekannt.
Schon in Sicherheit war Selma Wolf, die in Aachen zuletzt in der heutigen Leydelstraße wohnte. Gemeinsam mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter gelingt es ihr 1935 nach Palästina auszuwandern. Doch ein Jahr später kehrt sie zurück. Offenbar hat die Aachenerin Heimweg. Die 54-jährige Jüdin glaubt "einer alten Frau wird man schon nichts anhaben". Das ist eine fatale Fehleinschätzung. 1942 wird Selma über Izbica in das Vernichtungslager Belzec deportiert. Ihr letztes Lebenszeichen ist ein Brief von April 1942, der über das Rote Kreuz eine Tochter in Palästina erreicht.
Drei Menschen, drei Schicksale: rekonstruiert hat sie das Gedenkbuchprojekt für die Opfer der Shoah aus Aachen. Der vor rund 20 Jahren gegründete Verein hat sich zum Ziel gesetzt, allen Mitgliedern der Synagogengemeinde Aachen wieder ein Gesicht zu geben, die während der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt wurden. "Wir versuchen an Menschen zu erinnern, die einmal unsere Nachbarn waren", sagt Bettina Offergeld, Mitbegründerin und heute Vorsitzende des Gedenkbuchprojekts. Das Unterfangen ist eine Mammut Aufgabe. Denn insgesamt geht es um die Biografien von etwa 2000 Personen. "Zwar zählt die Aachener Synagogengemeinde 1933 nur rund 1300 Mitglieder", erklärt Offergeld. "Dazu gehören sowohl Juden aus der Stadt als auch Juden aus angrenzenden Gemeinden wie Brandt oder Würselen. Ihre Zahl sank durch Auswanderung und Vertreibung bis 1939 auf rund 800 Personen. Aber in der Zwischenzeit waren viele Juden aus kleineren Orten des Umlandes nach Aachen gezogen, weil sie sich in der Großstadt offenbar etwas sicherer fühlten".
Rund 170 Lebenswege konnte der Verein inzwischen nachzeichnen - mal ausführlich, mal eher knapp. Gelungen ist ihm das meist mit Hilfe von Nachfahren oder ehemaligen Nachbarn der jüdischen Opfer. Bei ihren Recherchen haben sich Offergeld und ihre Mitstreiter zunächst auf Person konzentriert, die während der NS-Zeit ermordet wurden. "840 von ihnen sind uns namentlich bekannt", sagt Offergeld. "Aber die Zahl kann weiter steigen. Denn von 360 jüdischen Aachenern wissen wir bis heute nicht, was aus ihnen geworden ist." Einige dieser Biografien sind bereits in den Jahren seit 2005 publiziert worden. Andere wurden erst in den vergangenen Monaten erstellt. Anfang des kommenden Jahres soll nun im Aachener Rimbaud Verlag ein Sammelband erscheinen, der eine Gesamtübersicht des bisherigen Wissensstands geben will.
„Von 360 jüdischen Aachenern wissen wir nicht, was aus ihnen geworden ist.“
Bettina Offergeld, Vorsitzende des Gedenkbuchprojekt
Deutlich ist bei den Nachforschungen eines geworden: in Aachen war vor allem das Frankenberger Viertel ein Zentrum jüdischen Lebens.
In den 30er Jahren wohnt in hier mehr als 400 Juden, darunter zeitweise auch Anne Frank. Auf der Flucht von Frankfurt in die Niederlande fand das Mädchen gemeinsam mit seiner Mutter für wenige Monate am Pastorplatz Unterschlupf bei den Großeltern. Anne starb 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Ebenso wie die durch ihr Tagebuch berühmt gewordene 15-jährige fielen mindestens 132 jüdische "Frankenberger" der deutschen Mordmaschinerie zum Opfer.
Mit Hilfe des Vereins "Frankenbu(e)rger" hat das Gedenkbuchprojekt inzwischen eine Liste von rund 100 Häusern aus dem Viertel zusammen getragen, in denen während der Dreißigerjahre Juden wohnten. Vorgestellt wird sie auf einer Veranstaltung anlässlich des 80. Jahrestages der Reichspogromnacht am 18. Oktober in der Frankenburg. Daneben soll dort an das Schicksal einzelner jüdische Bürger und deren Bedeutung für die Aachener Tuchindustrie erinnert werden. Referenten sind neben Bettina Offergeld auch Andreas Lorenz vom Tuchwerk Aachen und Walter Hörner von Rimbaud- Verlag. Für Dietrich Brandt, der als "Frankenbu(e)rger die Veranstaltung moderiert, geht es an dem Abend aber um mehr als um als nur Gedenken. Er sagt: "Angesichts der zunehmenden rechten Tendenzen in unserer Gesellschaft wollen wir auch mahnen und bewusst machen, wohin soll ich eine Entwicklung schnell führen kann."
INFO: Gedenken an die Reichspogromnacht
Rund um das Gedenken an die Reichspogromnacht am Synagogenplatz (8. November) gibt es in Aachen mehrere Veranstaltungen, drei davon auf der Frankenburg. Neben dem Abend am 18. Oktober zum jüdischen Leben im Frankenberger Viertel (Beginn: 19:00 Uhr) wird am 23. Oktober der Psychologe Thomas Auchter referieren. Der Titel seines Vortrags: "Das Fremde zwischen Angst und Faszination – psychoanalytische und psychosoziale Aspekte". Auchter will angesichts der aktuellen Flüchtlingsdebatte zeigen, dass die Ausgrenzung bis hin zur Ermordung vermeintlich Anderer "gerade in Deutschland nicht nur in der Nazizeit eine unselige Vergangenheit hat". Beginn ist um 19:00 Uhr. Am 28. November referieren in der Burg Winfried Casteel, Yvonne Hugot-Zgodda und Holger Dux. Ab 19:00 Uhr begeben Sie sich auf "Spuren der Nazizeit durch Aachen".
Quelle: Aachener Nachrichten, 13.10.2018