Juden in Aachen zwischen 1935 und 1944

Von Bettina Offergeld, Gedenkbuchprojekt Aachen

August 1935

Auf Befehl des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) in Berlin fertigte das Standesamt der Stadt Aachen eine Aufstellung der in Aachen lebenden Juden an (Adrema). Im August 1935 haben danach 1.276 Juden in Aachen gelebt. Da viele Juden nicht gemeldet waren, ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Anzahl der hier lebenden jüdischen Bürger höher war.

September 1935

Die Bezeichnung "Bürger" ist natürlich nur bedingt richtig. Nach dem "Reichsbürgergesetz" mit seinen 13 Durchführungsverordnungen, das zusammen mit dem "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" die "Nürnberger Gesetze" vom 15. September 1935 bildet, haben lediglich Arier den Status des "Reichsbürgers", an den alle politischen Rechte geknüpft sind. Juden behalten lediglich die Staatsbürgerschaft mit sehr eingeschränkten politischen Rechten. Das "Reichsbürgergesetz" bewirkte den systematischen Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Leben.

Das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre", das sogenannte "Blutschutzgesetz", enthält die Regeln zur Klassifikation von Juden in Halbjuden, Vierteljuden usw. Es beinhaltet neben dem Verbot für Juden, die deutsche Flagge zu hissen, u.a. auch das Eheschließungsverbot und das Verbot des außerehelichen Geschlechtsverkehrs zwischen Juden und Nicht-Juden. Vergehen werden mit Zuchthaus bestraft.

November 1938

Nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 und der Arisierung sind die Juden absolut rechtlos. In dieser Nacht werden im Deutschen Reich 20.000 bis 30.000 Juden davon ca. 80 aus Aachen von der Gestapo verhaftet.

1939/1940

Zu dieser Zeit leben noch ca. 800 Juden in Aachen. Die übrigen sind größtenteils ins benachbarte Ausland, nach Amerika oder Palästina ausgewandert.

April 1941

Ab April 1941 wurde die jüdische Bevölkerung Aachens in "Judenhäusern" untergebracht. Judenhäuser, in denen die Menschen auf engstem Raum leben mussten, befanden sich in der - Alexanderstraße 95 - Eupener Straße 249 - Försterstraße 28 (Mischehen) - Promenadenstraße 21 - Königstraße 22 - Trierer Straße 285 - Horst-Wessel-Straße 87 (ehemals Jüdisches Altenheim, heute Kalverbenden)

Die Stadtverordnetenversammlung entschied zu diesem Zeitpunkt, das Obdachlosenheim am Grünen Weg 12 in ein Internierungslager umzufunktionieren. Neben der Unterbringung in den Judenhäusern wurden Juden aus Aachen und Umgebung bis zu ihrem Abtransport vom Aachener Hauptbahnhof aus in den Osten im Lager Grüner Weg untergebracht. Von hier aus legten sie ihren Weg zum Hauptbahnhof zu Fuß zurück.

1942-1944

Im Jahr 1942 begannen die Deportationen aus Aachen. Insgesamt 200 Aachener wurden mit Transporten im März und Juni 1942 "in den Osten" deportiert, wahrscheinlich in das Internierungslager Izbica, von wo aus die Aufteilung auf die Vernichtungslager Sobibor und Belzec erfolgte. Von diesen Transporten sind keine Überlebenden bekannt.

Der "Große Transport" aus Aachen erfolgte am 25. Juli 1942 nach Theresienstadt. Deportiert wurden Juden aus dem gesamten Rheinland. Die Fahrt wurde über das Mitteleuropäische Reisebüro in Köln abgewickelt. Den Fahrpreis für sich und das mitgeführte Gepäck mussten die Deportierten selber zahlen. Aus Aachen wurden an diesem Tag 205 Menschen deportiert. Von Theresienstadt aus wurden 21 Aachener mit und mit nach Auschwitz-Birkenau deportiert; soweit bekannt, überlebte niemand. Von den übrigen 184 Aachenern in Theresienstadt sind acht Überlebende bekannt, zwei weitere wurden in die Schweiz freigekauft.

Bis 1944 soll es von Aachen aus noch zwei bis drei weitere Transporte nach Theresienstadt gegeben haben, deren Existenz jedoch nicht hinreichend durch Quellen belegt ist.

Von Belgien (Lager in Mechelen), Holland (Lager in Westerbork) und Frankreich (Lager u.a. in Drancy) aus wurden 131 Aachener nach Auschwitz deportiert. Von diesen überlebten drei; zu neun weiteren haben wir keine genauen Informationen ihres Verbleibs.

Das heißt, dass uns bisher 140 Aachener namentlich bekannt sind, die in Auschwitz ermordet worden sind. Wie groß die Anzahl der Namenlosen ist, wissen wir nicht.

Eine der 140 in Auschwitz Ermordeten ist Henriette Weisbecker. Sie und ihre Familie stelle ich nun kurz vor.

Henriette, genannt Henny, geborene Katz wird am 29. Dezember 1893 in Eilendorf geboren. Sie hatte zwei Geschwister, Simon und Emilie. Ihre Eltern waren Meyer und Helena Katz geborene Salmagne. Sie heiratete Salomon, genannt Sali, Weisbecker im Jahr 1926 in Aachen.

Salomon Weisbecker wurde am 04. Juli 1865 als Sohn eines Viehhändlers in Fischborn im Kreis Gelnhausen geboren. Sali Weisbecker besuchte das Gymnasium, das mehrere Kilometer entfernt war. Den Schulweg legte er jeden Tag zu Fuß zurück. Er war das einzige Kind des Viehhändlers, der zu den Ärmsten des Dorfes gehörte, das ein Gymnasium besuchen konnte.

Sali, von dem nicht bekannt ist, wann er nach Aachen zog, war in erster Ehe mit der gleichaltrigen Lina Weisbecker geb. Hess verheiratet, die bereits 1922 in Aachen verstarb. Mit ihr hatte er zwei Kinder, Elsa und Karl. Die Familie Weisbecker wohnte in der Rolandstraße 8.

Im Jahr 1926 heiratete Sali Weisbecker Henriette. Der einzige Sohn des Ehepaars, Ernst Shimon, wurde am 09. Juni 1927 in Aachen geboren. Die Familie Weisbecker wohnte am Bergdriesch 38, von wo aus sie Ende 1938 in die Kaiserallee 30 (heute Oppenhoffallee) in das Haus der jüdischen Witwe Rosenberg und, nun nur noch zu zweit, im September 1941 in das Jüdische Altenheim in der Horst-Wessel-Straße (heute Kalverbenden) übersiedeln musste.

In Aachen besaß Sali Weisbecker eine Agentur für Garne und Tuche. In der Jüdischen Gemeinde war er sehr aktiv, in verschiedenen Vereinen tätig und Mitglied in deren Repräsentantenversammlung. Nachdem das Nazi-Regime Handelsverbindungen zwischen deutschen Firmen und jüdischen Vertretern verbot, orientierte sich der bereits über siebzigjährige Sali Weisbecker geschäftlich ins angrenzende Ausland.

Die Kinder aus erster Ehe des Salomon Weisbecker, Elsa und Karl, waren bereits in den Jahren 1934 und 1936 als Zionisten nach Palästina ausgewandert und haben von dort aus unabhängig voneinander immer wieder ihren jüngeren Bruder Ernst Shimon "angefordert". Vergeblich versuchte die Familie Henny, Salomon und Ernst Shimon Weisbecker, Deutschland nach der Pogromnacht zu verlassen. Lediglich Ernst Shimon, der heute in Haifa lebt, kann im Dezember 1939 mit 12 Jahren als einziges Kind aus Aachen mit einem Kindertransport des Berliner Palästina-Amtes nach Palästina auswandern. Es dauert eine Zeit, bis in Palästina jemand davon erfährt, dass Ernst Shimon angekommen ist.

Bis dahin ist der 12-Jährige auf sich allein gestellt. Die Eltern Weisbecker werden am 25. Juli 1942 vom Jüdischen Altenheim aus mit dem Transport VII/2 von Aachen nach Theresienstadt deportiert. Salomon Weisbecker stirbt in Theresienstadt am 8. August 1942 mit 77 Jahren. Seine Frau Henny verlässt Theresienstadt am 12. Oktober 1944 mit dem Transport Eq-274 in Richtung Auschwitz-Birkenau. Sie wurde nicht in das Lager aufgenommen. Vermutlich ist Henny Weisbecker sofort nach ihrer Ankunft in der Gaskammer III vergast worden. Sie wurde 50 Jahre alt.

Quelle: Caritasverband für das Bistum Aachen e.V.: Gedanken. Notizen. Erinnerungen. Friedenswallfahrt nach Auschwitz November 1999, Aachen 2000