Gedenkbuch für die Opfer der Schoah aus Aachen

Von Monika Beck M.A.

Über die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes aus den großen deutschen Städten wie Berlin oder München wurde bereits viel geschrieben. Doch vom unsäglichen Leid waren jüdische Einwohner auch in den entlegensten Ortschaften betroffen. In Aachen hatte sich die Initiative „Gedenkbuch für die Opfer der Schoah aus Aachen e.V.“ 2001 gegründet, um die im Holocaust ermordeten Juden aus der Kaiserstadt der Vergessenheit zu entreißen. Die Schülerinnen des Aachener Mädchengymnasiums St. Ursula lieferten auf Einladung der „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“ eine Vorschau mit zwei Biographien von Juden aus Aachen.

Aachen – Carl Bernstein war ein Selfmademan. Er war vierzehn Jahre alt, als sein Vater starb, und um seinen Schwestern den Lebensunterhalt zu ermöglichen, nahm er eine Lehrlingsstelle in einem Textielgeschäft an. So berichtet seine in England lebende Enkelin Erica Prean.

Im Ersten Weltkrieg diente Carl Bernstein – wie viele andere deutsche Juden – als Offizier an der Front. Während der Weimarer Republik baute er seine eigene Textilfirma „Mayer und Stern. Tuch En Gros“ auf. Der Laden wurde im Erdgeschoss seines vierstöckigen Hauses untergebracht. Mit viel Fleiß brachte der junge Unternehmer sein Geschäft zur Blüte. Er beschäftigte eine Sekretärin, Frau Adele Saedler, zwei Buchalter, zwei Männer im Textillager und einen Chauffeur, der seinen Ford fuhr. Carl war für seine umfangreiche Familie sowie die Beschäftigten ein echter „Pater Familias“.

So erinnert sich sein Enkelin. Im Dezember 1938 löste Bernstein sein Geschäft auf. Kein Nazi sollte sein Lebenswerk in die Hände bekommen, sagte er. Und es begann der Leidensweg der Familie Bernstein aus Aachen. Ihr Haus in der Mittelstrasse 3 wurde 1940 zu einem „Judenhaus“, in dem viele jüdische Familien zusammen wohnten. Frau Emmy Bernstein schrieb an seine 1939 nach England emigrierte Enkelin Erica am 26. Februar 1940: „Wir wohnen jetzt in Deinem früheren Schlafzimmer, da alle Räume unten vermietet sind.“ Etwas später berichtete sie in einem Brief, dass sogar das Badezimmer besetzt war. Für Carl sei es am schlimmsten gewesen, hilflos zu sein, wo er doch immer Lösungen für jedermanns Probleme gefunden hätte, schreibt die Enkelin.

Später wurde die Familie Bernstein mit den anderen Juden in die Baracken auf dem Grünen Weg an der Grenze Aachens verfrachtet. Mutige nichtjüdische Freunde wie die ehemalige Sekretärin der Firma, Adele Saedler, sowie das gewesene Kindermädchen der Familie Bernstein, Frau Anna Leiding, hatten die Courage, die Erlaubnis zu beantragen, ihre ehemaligen Vorgesetzten einmal in der Woche besuchen zu dürfen. Carl war es erlaubt, einmal in der Woche in die Stadt zu gehen, um einzukaufen. „Der arme Mann war dankbar, wenn jemand seinen Hut zog und ihn grüßte, während er durch die Stadt wie ein Sträfling spazierte.“

Mitten in der Nacht wurde das Ehepaar Carl und Emmy Bernstein im Jahre 1942 aus seiner dürftigen letzten Aachener Unterkunft geholt und am Bahnhof in einen Viehwagon Richtung „Osten“ – vermutlich nach Izbica – gesteckt. Das ehemalige Kindermädchen, Anna Leiding, winkte ihnen zu. Sie hatte etwas Geld – ohne Zweifel ihr eigenes – in das Korsett von Emmy Bernstein eingenäht.

Doch die Hoffnung der mutigen Frau zu helfen, war umsonst. Nach dem Krieg erfuhren die nach England emigrierten Familienangehörigen aus einer Mitteilung des Roten Kreuzes, dass das Ehepaar Bernstein ungefähr im polnischen Chelmno in einem Lastwagen vergast worden sei. Erica Prean: „Mein Großvater war 67 Jahre alt. Er war mein VATER, und ich liebte ihn aufrichtigt.“ Außer Erica, ihren Eltern und einer Tante, die nach England emigriert waren, wurden alle Angehörigen ermordet. Die Familie hat 39 Mitglieder verloren.

Der vor kurzem verstorbene Jakob Israel Keppels-Lipmann Pakula aus dem niederländischen Heerlen erinnert sich an seine Halbschwester Gertrude (Trudi) Lipman Pakula. Sie war bereits sieben Jahre alt, als Jakob 1929 in Aachen geboren wurde. „Trudi war immer sehr liebvoll zu mir, ihrem kleineren Bruder, dem Jaköble“, so Herr Keppels-Lipmann.

Sie besuchte die jüdische Volksschule an der Synagoge in der Promenadenstraße (heute Synagogenplatz) und später die jüdische Schule am Bergdriesch. Nachher hatte sie eine Arbeitsstelle bei „Gummi Saul“. Noch bevor die gesetzlichen Schikannen gegen Juden begonnen hatten, ergab sich Trudi die Gelegenheit, nach England zu emigrieren. Ihre Freundinnen und einige Verwandten hatten diese Möglichkeit genutzt. Doch der Vater äußerte Bedenken, und so verpasste Jakobs ältere Schwester die Chance zu überleben, wie es der Bruder Jahrzehnte später schreiben wird.

Die Familie war väterlicherseits polnischer Abstammung. Nur die Mutter, Trudis Stiefmutter, besaß einen holländischen Pass. Die polnischen Juden von der Regierung als staatenlos erklärt und infolge dieser Verfolgungswelle war Trudi an ihrer Arbeitsstelle verhaftet und zum Abtransport gebracht worden.

Die Stiefmutter, die sie wie ein eigenes Kind liebte, rettete Trudi im letzten Augenblick. Jakob Keppels-Lipmann: „Später erzählte Mutti, was geschehen war. Sie hatte einen Offizier angesprochen und gesagt, dass Vater im Krankenhaus liege, und dass er gemeinsam mit Trudi nach Polen emigrieren werde.“

Der Vater wurde bald wieder gesund und einige Zeit herrschte Ruhe, eine trügerische Ruhe. Als die Ausweisung nach Polen 1939 vor der Tür stand, entschloss sich der Vater, sich und Trudi über Aachens „Grüne Grenze“ nach Belgien schleusen zu lassen. – Die Bezahlung betrug 10.000 Reichsmark.

Die Hälfte war im Voraus zu zahlen, die andere Hälfte nach der Ankunft in Antwerpen. – Der Vater wurde nach der deutschen Besetzung 1940 verhaftet, doch später ausgetauscht. Trudi arbeitete bei einer jüdischen Familie als Kindermädchen. Frau Keppels gelang es dank ihres niederländischen Passes mit ihren eigenen Kindern nach Holland zu gehen. Auf geheimen Wege holte sie auch ihren Mann in die Niederlande. Dort überlebte sie mit den Kindern nach dem deutschen Einmarsch im Versteck. Der Vater wurde nach Auschwitz deportiert.

Trudi blieb allein in Antwerpen. Nach dem Krieg erfuhr man, dass sie am 5. September in das Sammellager Mechelen-Malines gebracht wurde. Von dort kam sie am 11. September 1942 mit dem Konvoi II. Transport AB 3983 nach Auschwitz-Birkenau. Nach der Selektion an der berüchtigten Auschwitzer Rampe wurde sie sofort in der Gaskammer ermordet.

1991 reiste Jakob Keppels-Lipmann nach Auschwitz um für seine Lieben Kaddisch zu beten. Dort fand er auch die Namen der Ermordeten. Den Vater Leonard Lipmann und die Halbschwester Trudi unter Gertrude Pakula eingetragen.

Falls Sie, liebe Lester, zwischen 1933-1945 in Aachen gelebt haben oder über Erinnerungen an verfolgte Aachener verfügen, aber auch wenn Sie jemanden aus Aachen kannten, über dessen Verbleib Sie heute im Unklaren sind, dann nehmen Sie doch bitte Kontakt mit dem Gedenkbuchprojekt auf. Adresse: „Gedenkbuchprojekt für die Opfer der Schoah aus Aachen e.V.“, Oppenhoffallee 17, 52066 Aachen Deutschland. Tel: 0049-(0)241 505409 E-Mail: info@gedenkbuch-aachen.org Nähere Informationen im Internet: www.gedenkbuch-aachen.org

Quelle: Israel Nachrichten, 29. November.2007