Das große Drama der Familie Steinhardt

Aachen. Das schlimme Schicksal der Familie Steinhardt konnte jetzt aufgeklärt werden - ein weiterer Erfolg für das «Gedenkbuchprojekt für die Opfer der Shoah aus Aachen», das seit Jahren verdienstvolle Aufklärungsarbeit leistet.

Bei einer Veranstaltung am Montag, 10. November, wird um 19.30 Uhr im VHS-Forum (Peterstraße) an Kinder und Jugendliche erinnert, die während der Nazizeit aus Aachen deportiert und ermordet wurden.

Nach der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wussten Max und Sofie Steinhardt, dass sie und ihre Söhne ihres Lebens in Aachen nicht mehr sicher sind und beschlossen, nach Belgien auszuwandern. Max Steinhardt, 1898 geboren, war Graveur und heiratete 1928 Sofie Mimetz, geboren 1901. Die beiden Söhne Julius und Kurt kamen 1930 und 1932 zur Welt.

Als die Familie sich entschloss, Aachen zu verlassen, ging Max Steinhardt zunächst allein nach Belgien, um dort alles für die Ankunft seiner angehörigen vorzubereiten. Im Sommer 1939 war es soweit: Sofie, Kurt und Julius Steinhardt sollten mit dem Zug nach Lüttich fahren, Max wollte sie dort abholen. Durch widrige Umstände verpasste man sich am am Bahnhof, und Max gelang es nicht, seine Familie in Lüttich zu treffen.

Besorgt und verzweifelt erlitt er einen Herzinfarkt und starb am 17. August 1939 - nicht wissend, dass seine Familie sicher angekommen war. Es ist nicht bekannt, wo Sofie mit ihren neun- beziehungsweise siebenjährigen Söhnen in Belgien unterkam. Tragischerweise starb auch sie nur wenige Monate später.

Julius und Kurt kamen in die Obhut des Hilfskomitees für jüdische Flüchtlingskinder. Sie wurden zunächst in einem Kinderheim bei Brüssel untergebracht. Als 1940 die deutsche Wehrmacht in Belgien einfiel, konnte eine Gruppe von 93 Kindern, darunter auch Julius und Kurt Steinhardt, ins unbesetzte Südfrankreich fliehen.

Zunächst kamen sie während des harten Winters 1940/41 in einem sehr einfachen Bauernhof in der Nähe von Toulouse unter. Im Frühjahr 1941 zogen die Kinder mit ihren Betreuern in die Flüchtlingskinderkolonie «La Hille» in der Nähe von Foix, südlich von Toulouse.

1942 wurden der Druck auf die Vichy-Regierung und der Einfluss der Nationalsozialisten größer. Die jüdischen Kinder waren verstärkt von Verhaftung und Deportation bedroht. Eine der Komiteeleiterinnen gelang es von New York aus, einer Gruppe von jüngeren Flüchtlingskindern aus La Hille die Einreise in die USA zu ermöglichen: Julius und Kurt Steinhardt erreichten mit 109 weiteren Kindern im Juni 1941 über Portugal die Vereinigten Staaten.

Der einzigen Verwandten der beiden Jungen, Bertha Shelas, Schwester von Sofie Steinhardt, die seit kurzem in den USA lebte, war es nicht möglich, sich um ihre Neffen zu kümmern. Julius und Kurt wurden jedoch bald von Morton Schaller aus Cleveland adoptiert und änderten ihre Nachnamen in Schaller.

Julius war später verheiratet und hatte mehrere Kinder. Er setzte seinem Leben in den 1970er Jahren ein Ende. Kurt war ebenfalls verheiratet und starb in den 1990er Jahren in Pennsylvania.

Durch den Kontakt des Gedenkbuchprojekts zu Walter Reed, einem Überlebenden der Shoah, und die freundliche Überlassung seiner Recherchen konnte somit ein weiteres, bislang unbekanntes Familienschicksal aufgeklärt werden.

Reed, geboren in der Nähe von Würzburg, wurde 1939 von seinen Eltern in das Kinderheim des Hilfskomitees nach Anderlecht in Belgien geschickt, um der Naziverfolgung zu entgehen. Dort lernte er die Geschwister Julius und Kurt Steinhardt kennen und überlebte wie sie in den USA.

Anlässlich eines Treffens der Überlebenden, an dem die Geschwister nicht mehr teilnehmen konnten, beschäftigte er sich intensiv mit deren Schicksalen.

Quelle: Aachener Zeitung, 7. November 2008