31 Shoah-Opfer erhalten wieder ein Gesicht
Vertreter des Gedenkbuch-Projektes überreichen die neueste Publikation mit Biographien von Ermordeten an OB Linden. Unterstützung wächst.
Aachen. Der "Zug der Erinnerung", jene spektakuläre Präsentation über die Opfer von Deportation und Völkermord während der NS-Zeit, hat den Aachener Hauptbahnhof längst wieder verlassen. Hinter den Kulissen aber engagieren sich immer mehr Bürger für das Vorhaben, die Gesichter und Geschichten der Verschleppten und Ermordeten dem Vergessen zu entreißen. Gestern überreichte Bettina Offergeld, Vorsitzende des Vereins "Gedenkbuchprojekt für die Opfer der Shoah aus Aachen" die jüngsten Ergebnisse jahrelanger Recherchen in Gestalt einer neuen Publikation an Oberbürgermeister Dr. Jürgen Linden.
Gemeinsam mit Bürgern aller Generationen - von den Zwölftklässlerinnen, die sich bereits im Projekt "Stolpersteine" engagiert haben, bis hin zum Senior - legt der Verein damit weitere 31 Biographien von Holocaust-Opfern vor. Vor zwei Jahren hat die Initiative ihr erstes Werk mit 24 Lebensläufen von NS-Opfern präsentiert, deren Namen sie zuvor akribisch recherchiert hatte.
Zum Beispiel den von Hannah Seelmann. Im zarten Alter von zehn Jahren kam das jüdische Kind ins Altenheim - eine vordem gediegene Residenz im Kalverbenden. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Spur der ehemaligen Heimbewohner wohl bereits buchstäblich im Rauch der KZ-Schornsteine verloren. Die Nationalsozialisten (und ihre Helfer) hatten die ehemals vielfach hoch angesehenen und begüterten Aachener allesamt den Waggons Richtung Vernichtungslager überantwortet. Das war 1942. Dann nutzten sie das ehemalige Heim als Internierungsstelle für Familien. Auch Hannah Seelmanns Sterben wurde so von Aachen-Burtscheid aus "organisiert".
Dokumentiert haben dies bereits vor einem knappen Jahr Schüler der Viktor-Frankl-Schule für körperlich Behinderte, die heute an der gleichen Stelle steht. Wichtige Unterstützung erhielten sie vom Gedenkbuch-Verein. Ihr Lehrer Hans-Theo Horward hat sich durch weitere Recherchen über Shoah-Opfer revanchiert. Gemeinsam mit seiner Autoren-"Kollegin" Corinna Broekmann spürte der Pädagoge mehreren Schicksalen von Ermordeten nach, inzwischen korrespondieren sie auch mit Hinterbliebenden und Wegbegleitern der Opfer in Australien, England oder den Vereinigten Staaten.
Im neuen Gedenkbuch ist auch das Leben und Sterben eines Mannes beschrieben, dessen Name manchem durch seinen todesmutigen Einsatz für KZ-Kinder wie Hannah Seelmann inszwischen wieder bekannt sein könnte: Fredy Hirsch. "Am 8. März 1944 hat Fredy Hirsch Gift genommen, nachdem klar wurde, dass er sehr bald in die Gaskammer von Auschwitz kommen werde", berichtete Bettina Offergeld. "Als man ihn zur Vergasung schleppte, war er bereits halb tot." Inzwischen erinnert auch ein "Stolperstein" in der Richardstraße an Fredy Hirsch.
Doch es gilt noch viele Geschichten zu erforschen. Weit über 600 der mindestens 700 Aachener Shoah-Opfer sind zwar durch das Gedenkbuch-Projekt bekannt, nicht aber ihre konkreten Schicksale. "Die Individuen", hob daher auch OB Linden hervor, "müssen sichtbar gemacht werden." Nur so könne das unvorstellbare Ausmaß des Mordes an rund sechs Millionen NS-Opfern vermittelt werden. Linden: "Es freut mich besonders, dass sich so viele junge Menschen in diesem Sinne engagieren. Der Gedenkbuch-Verein leistet auch hier sehr wichtige Arbeit."
Quelle: Aachener Zeitung, 11. März 2008