Gedenkbuch 2008

Hannah Seelmann und ihre Eltern Edith Seelmann geborene Wittstock und Alfred Seelmann

Von Hans-Theo Horward, Aachen

Ich habe Hannah nicht gekannt. Sie hat im Jahr 1942 – ein Jahr vor meiner Geburt – Aachen verlassen. Oder genauer gesagt, sie wurde gezwungen, diese Stadt zu verlassen.

Sie könnte mir heute gegenüber sitzen, und ich könnte sie fragen, wie sie die Zeit ab 1933, in der die Nationalsozialisten an der Macht waren, als Kind erlebt hat. Aber sie kann nicht auf meine Fragen antworten, da sie im Jahr 1942 aufgrund der Tatsache, dass sie Jüdin war, mit ihrer Mutter deportiert wurde.

Begonnen hat mein Interesse an Hannah Seelmann, als ich mit Schülern das Hausbuch des Israelitischen Altersheimes durcharbeitete. Wir recherchierten, was mit den Bewohnern des Heimes, die in mehreren Transporten im Jahr 1942 in den Osten beziehungsweise nach Theresienstadt deportiert wurden, geschah. Hierbei fiel uns auf, dass Hannah mit elf Jahren die jüngste Bewohnerin dieses Heimes war.

Als die Ergebnisse unserer Recherchen in unserer kleinen Schrift „Von Aachen nach Theresienstadt: Der Weg in den Holocaust“ im Jahr 2007 veröffentlicht wurde, haben wir sie der jüngsten Bewohnerin – Hannah Seelmann – gewidmet.

Daraufhin meldeten sich mehrere Zeitzeugen, die Hannah noch gekannt hatten. Seitdem versuche ich immer wieder, mir ein Bild von dem Mädchen zu machen, das heute noch leben könnte.

Hannah Seelmann wurde am 01. März 1931 in Aachen geboren. Sie war das einzige Kind der Eheleute Alfred und Edith Seelmann, geborene Wittstock. Ihr Vater wurde am 23. März 1896 in Aachen, ihre Mutter Edith Wittstock wurde am 19. August 1899 in Grünau geboren.

Die Familie väterlicherseits lebte schon lange in Aachen. So führte der Großvater Benjamin Seelmann laut Eintragung im Aachener Adressbuch des Jahres 1887 ein Geschäft am Kapuzinergraben 2. Auch sein Sohn Alfred Seelmann war von Beruf Kaufmann.

Hannah hat ihren Großvater nicht mehr kennen gelernt. Er starb bereits im März des Jahres 1929. Die im Jahr 1869 in Essen geborene Großmutter väterlicherseits, Olga Seelmann, geborene Archenholz, verzog im Jahr 1934 aus der Bahnhofstraße 29 in das Israelitische Altersheim, wo sie im Jahr 1942 verstarb.

Hannah lebte mit ihren Eltern in der Frankenberger Straße 36. Hier handelte der Kaufmann Alfred Seelmann mit Tuchen.

Zwei Vettern von Alfred, die ebenfalls in Aachen lebten, gehörten zu den männlichen Juden, die nach der Reichspogromnacht 1938 in „Schutzhaft“ genommen und nach Buchenwald deportiert wurden. Am 09. November hatte man ihr Bettwarengeschäft auf der Hindenburgstraße 19, der heutigen Theaterstraße, geplündert. Frau Gisela Roos, damals ein kleines Mädchen, erinnert sich, dass am Morgen des 10. Novembers auf ihrem Weg zur Schule Matratzen auf dem Bürgersteig lagen, die Fenster des Bettengeschäftes eingeschlagen waren und es so aussah, als ob vieles geplündert worden war. Nach ihrer Entlassung aus dem Konzentrationslager wurde die Firma „Bettenwaren Julius Seelmann GmbH“ arisiert. Der Vetter Karl wanderte mit seiner Familie nach Südamerika aus, über den Vetter Fritz gibt es keine weiteren Hinweise. Es ist aber zu vermuten, dass er mit seiner Familie rechtzeitig emigrierte. Ein dritter Vetter von Hannahs Vater, Paul Erich Seelmann, ist vermutlich von Aachen aus in die Niederlande emigriert. Dort wurde er später in Westerbork interniert. Von hier aus wurde er am 25. August 1942 mit 517 weiteren Juden nach Auschwitz gebracht, wo er am 12. Februar 1943 ermordet wurde.

Frau Prean, eine Zeitzeugin, die Aachen im Juni 1939 im Alter von neun Jahren verließ und mit ihrer Mutter nach England emigrierte, erinnert sich an Hannah. Sie hat mit ihr die Israelitische Volksschule am Bergdriesch besucht.

Am 11. Mai 1939, also kurz vor der Ausreise von Frau Prean, schrieb Hannah ihr ins Poesiealbum den kleinen Spruch: Im Jahr 1940 findet sich im Aachener Adressbuch nur noch eine Eintragung unter dem Namen Seelmann: Alfred Israel, der Vater von Hannah. Frau K., eine weitere Zeitzeugin, berichtet, dass ihre Mutter Schneiderin war und viele Aachener Juden als Kunden hatte. Wenn sie zu den Anproben ihrer Kundschaft ging, nahm sie häufig die Tochter mit. Bei einer dieser Anproben hat Frau K. Hannah kennen gelernt, die ein Jahr älter war als sie. Am 10. September 1941 wurde die Familie Seelmann in das Israelitische Altersheim in Burtscheid in der damaligen Horst-Wessel-Straße 87, heute Kalverbenden, eingewiesen. Das Haus war zu diesem Zeitpunkt bereits eines der sogenannten Judenhäuser in Aachen und wurde als Sammellager genutzt. Ab diesem Zeitpunkt lebte Familie Seelmann hier mit weiteren 163 Personen, überwiegend älteren Menschen, in beengten Wohnverhältnissen. Hannah war nun 10 ½ Jahre alt. Spielgefährten wird sie hier nicht gefunden haben. Lediglich ein 15jähriges Mädchen war hier ebenfalls untergebracht. Unsere Zeitzeugin Frau K. erinnert sich, dass ihre Mutter der Familie Seelmann vor deren Deportation Säume in die Kleidung genäht hat, damit darin Geld versteckt werden konnte. Mit weiteren 17 jüdischen Bürgern wurde Alfred Seelmann am 22. März 1942 von Aachen nach Izbica deportiert. Es war der erste von vier Transporten, die im Jahre 1942 von Aachen aus in den Osten beziehungsweise nach Theresienstadt gingen. Vermutlich ist Alfred Seelmann sofort nach seiner Ankunft in Izbica umgebracht worden. Mit welchem Transport Hannah und ihre Mutter deportiert wurden, entzieht sich meiner Kenntnis. Bekannt ist nur, dass sich Frau K. an diesem Tag der Deportation von Hannah und ihrer Mutter in der Claßenstraße, von wo aus sie die jüdischen Bürger sah, die laut Gesetz keine Bürger mehr waren, die mit ihrem Gepäck Richtung Westbahnhof gingen. Es herrschte eine gedrückte Stille, auch unter den zuschauenden Aachener Bürgern. Auf diesem Weg hat Frau K. Hannah zum letzten Mal gesehen. Über das weitere Schicksal von Hannah und ihrer Mutter ist nichts bekannt. Hannah und ihre Eltern wurden am 31. Dezember 1945 für tot erklärt.


Hans-Theo Horward Aachen im Juli 2007

Fotos und Poesiealbum: Privatbesitz von Erika Stiebel Prean, Großbritannien