Betty Reis
Von Wilma Hoekstra-von Cleef, Aachen
Betty Reis wurde am 15. Juli 1921 in Wassenberg als zweites Kind ihrer Eltern Willy und Else Reis geboren. Ihr älterer Bruder Walter hat den Holocaust überlebt und konnte deshalb später dem Forscher Heribert Heinrichs Auskunft über das kurze und leidvolle Leben seiner Schwester geben. Auf Professor Heinrichs Dokumentation und Vortrag1 stützt sich die folgende Kurzbiografie.
Betty verbrachte ihre Kindheit und Volksschulzeit in Wassenberg, wo sie sich mit ihrer Familie heimisch fühlte. Trotz antisemitischer Vorfälle bereits in ihrer Kindheit scheint die Atmosphäre im Ort bis 1933 allgemein nicht judenfeindlich gewesen zu sein.
Die Familie Reis war fromm, sie begingen die jüdischen Festtage und hielten den Sabbat. Allerdings schien Betty der Stellung der Frau im Judentum recht kritisch gegenüber zu stehen. So hörte sie während des Morgengebets, das ihr Vater sprach, nicht gerne die Stelle: "Gesegnet seist Du, o Herr, unser Gott, König der Welt, der Du mich nicht als Weib geschaffen hast."2
Als Betty acht Jahre alt war, wurde ihr zum ersten Mal brutal deutlich gemacht, dass es Menschen gab, für die Juden minderwertige Menschen waren. Ein Spielkamerad hatte ihr seinen Roller geliehen und Betty fuhr fröhlich damit über den Platz vor dem Rathaus. Ein SA-Mann, der dies beobachtete, brüllt über den Platz: "Wer hätt dem Jüdd de Roller jejeave?"3
Er nahm ihr den Roller ab und Betty, die zu gutem Benehmen und Vorsicht erzogen war, lief nach Hause, ohne etwas zu erwidern. Verlief ihre Schulzeit bis 1933 auch ganz normal, so brachte die "Machtergreifung" eine einschneidende Wende. Ihr Lehrer, der die Chance einer Parteikarriere sah und ergriff, diskriminierte Betty in der Klasse, indem er sie als Angehörige einer jüdischen Familie explizit als "minderwertig" bezeichnete4 und sie von bestimmten Unterrichtsaktivitäten ausschloss. Da sie natürlich auch nicht wie die anderen Mädchen in den BDM durfte, war sie, obwohl die anderen Kinder nach Aussage eines Mitschülers5 Mitleid mit ihr hatten, bald ganz isoliert. "Wenn ich in der Brühl [die Straße, in der die Familie Reis wohnte] aus unserer Haustüre trete, bin ich wie in der Fremde, wie in Feindesland, wie ausgestoßen."6
Betty entsprach rein äußerlich mit ihrem rotblonden Haar überhaupt nicht dem Klischee des jüdischen Typus, das die Nationalsozialisten propagierten; auch hatte sie, so der oben erwähnte Mitschüler, ein liebes Wesen. Aber der Fanatismus ihres Lehrers sah darüber eben so hinweg wie über Bettys zunehmende Traurigkeit und Einsamkeit.
Die Schulentlassung 1936 erlöste sie zwar aus dieser entwürdigenden täglichen Situation, aber ihre Probleme wurden nicht kleiner. Sie fand keine Arbeitsstelle, da niemand ein jüdisches Mädchen einstellen wollte; nicht einmal bei der Kartoffelernte, wo eigentlich jede Arbeitskraft gebraucht wurde, durfte sie mithelfen. Der Ortsbauernführer war der Ansicht, dies sei den "arischen" Erntehelfern nicht zuzumuten.7 Betty blieb deshalb nichts anderes übrig, als zu Hause zu bleiben und ihrer Mutter im Haushalt zu helfen. Wie Heribert Heinrichs, selbst in Wassenberg aufgewachsen, in Erfahrung bringen konnte, wurden Betty bald auch Kinobesuche verboten.
Dieser zunehmende Antisemitismus war die Ursache dafür, dass Betty eine Stelle als Dienstmädchen bei einer jüdischen Familie in Solingen-Ohligs annahm, obwohl das für eine Fünfzehnjährige, die sehr an ihrem Zuhause hing, ein schwerer Entschluss war. Sie hatte eine kurze Weile Ruhe, aber 1937 musste sie hören, dass ihr Onkel Karl ohne Angabe von Gründen plötzlich verhaftet worden war. Er wurde ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht, von wo ein Jahr später die Nachricht kam, Karl sei auf der Flucht erschossen worden. Bettys Onkel Karl Hertz war wegen einer Verletzung, die er als Soldat im Ersten Weltkrieg davongetragen hatte, behindert, was sicher ein weiterer Grund für seine Deportation und seine Ermordung war.
Am 10. November 1938 waren auch die Wassenberger Nationalsozialisten genügend "eingestimmt", in ihrem Ort die Synagoge in Flammen aufgehen zu lassen und alle Juden aus ihren Wohnungen zu holen. Betty Vater wurde in ein Konzentrationslager verbracht.
Für Betty brachte diese Nacht ein grauenvolles Erlebnis: Sie war in Ohligs als Jüdin gemeldet, sie arbeitete bei einer jüdischen Familie, folglich wurde auch sie abgeholt und in einen so genannten Auffangkeller verschleppt. Betty war danach für immer gezeichnet. Auch wenn sie wegen der Drohungen ihrer Peiniger nie über die Vorfälle in jenem Keller gesprochen hat, konnte ihr Bruder Walter, der sie nach zwei Tagen durch die Hilfe eines "arischen" Freundes herausholen konnte, erkennen, dass sie "körperlich und seelisch Unvorstellbares durchgemacht hatte".8 Walter Reis brachte seine Schwester zurück in ihren Heimatort, wo die Mutter, die wieder in ihr Haus hatte zurückkehren dürfen, sie wochenlang pflegte.
Nach diesen Ereignissen wanderte Bettys Bruder im Frühjahr 1939 über die Niederlande nach England aus, wo die Familie Verwandte hatte. Walter Reis konnte das noch legal tun. Als Betty ihm ein halbes Jahr später folgen wollte, wurde das durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs verhindert. Es ist tragisch, dass sie bereits beim Grenzübertritt Walters in den Niederlanden war, denn sie begleitete ihn bis Vlodrop. Allerdings kehrte sie dann wieder zu ihrer Mutter zurück, sie war schließlich erst achtzehn und kaum genesen. Aber ihr zweimaliger Versuch, heimlich in die Niederlande zu gelangen, scheiterte. Sie blieb also bei ihrer Mutter und fiel den Dorfbewohnern wegen ihrer furchtbaren Traurigkeit auf.9
Kurz darauf begann die Ghettoisierung der Juden wie überall auch in Bettys Heimatort. Betty und ihre Mutter wurden mit den anderen verbliebenen Wassenberger Juden in ein Judenhaus nach Heinsberg gebracht, wo sie in großer Enge lebten; zudem froren sie und litten unter dem Schmutz dieser Behausung. Alles Eigentum hatten sie zurücklassen müssen – der Staat verfügte darüber und verteilte es an "ärmere arische" Personen.10
Als Betty zwanzig Jahre alt war, hatte sie von ihrer Mutter Kochen und Nähen gelernt und durfte in den Arbeitslagern der Nazis als Küchenhelferin arbeiten: "in Eschweiler, in Kohlscheid, in Stolberg, zuletzt in Walheim"11 bei Aachen. Von dort aus durfte sie am Wochenende manchmal ihre Mutter besuchen, ab 1941 gekennzeichnet durch den "Judenstern".
Die erste Deportation von Juden aus dem Rheinland nach Osten begann am 14. Oktober 1941. Das vorgesehene Transportziel war das Ghetto Lodz. Die Wassenberger Juden, unter ihnen Bettys Eltern, verließen ihre Heimat mit dem Transportzug DA 52 ab Düsseldorf in Richtung Izbica.12 Nur wenige Wochen – Betty erfuhr es erst wenige Stunden vor der Abfahrt – wurde auch sie mit einem Lastwagen von Walheim nach Düsseldorf gebracht. Überlebende haben berichtet, dass die Bedauernswerten die ganze Nacht im Schlachthof stehend auf den Abtransport warten mussten und entwürdigende Untersuchungen zu ertragen hatten, ob sie nicht etwa Wertvolles in Körperöffnungen versteckt hielten. Mitnehmen durfte Betty nur "50kg Gepäck, 100 Reichsmark, Nahrungsmittel für 3 Tage."13 Am nächsten Morgen hatte Betty in einen Viehwaggon zu steigen. Dort eingeschlossen überlebte Betty die unmenschliche Tortur einer vierzehntägigen Reise nach Izbica. Dass sie dort angekommen ist, belegen einige Kartengrüße von ihr an einen in Theresienstadt internierten Onkel.
Dem Bericht eines Wassenberger Soldaten14, der im Osten eingesetzt war, zufolge wurde Betty im Ghetto Lodz als Uniformschneiderin eingesetzt. Als diese Uniformschneiderei 1944 aufgelöst wurde, muss Betty nach Auschwitz gebracht worden sein, denn ihre letzten Kartengrüße nach Wassenberg kommen aus Bergen-Belsen, wohin die Insassen der östlichen Lager wegen der Frontnähe seit 1944 verbracht wurden. So war Betty zwar der Vergasung entgangen, hatte sogar noch den erneuten Transport im Viehwagen überstanden – aber sie gehört nicht zu den Überlebenden des Lagers Bergen-Belsen. Woran sie gestorben ist, bleibt unbekannt: körperliche Erschöpfung, Hunger und Durst, Krankheit? Psychische Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit, Selbstaufgabe? Erschießung durch die SS?
Die Gesamtschule Wassenberg hat sich im Juni 1997 den Namen „Betty-Reis-Gesamtschule“ gegeben, um an die ehemalige Wassenberger Schülerin zu erinnern. Die Darstellung ihres Lebens durch Heribert Heinrichs und die Namensgebung der Schule haben Betty Reis der Anonymität und dem Vergessen entrissen.