Berta Moses, verwitwete Keller, geborene Baum
Von Wilma Hoekstra-von Cleef
Juli 1942
Unsere lieben Kinder,
Ihr werdet unsere letzte Karte wohl erhalten haben, welche wir schon zum Abschied schrieben, da wußten wir [...] noch nicht bestimmt den Tag.
Wie Euch schon der l. Vater schreibt, also am 25. fahren wir ab.
So wird unser Wiedersehen vielleicht schon näher sein, als wir ahnen.
Nun senden wir Euch zum Abschied noch ein Bild von uns und hoffen dass Ihr selbiges erhaltet.
Ihr sollt doch auch den l. Vater kennenlernen & hoffen wir bestimmt dieses bald persönlich geschehen wird.
Nun meine lieben Kinder lebt wohl & betet für uns und der lb. Gtt. wird ferner seine schützende Hand über uns halten sowie auch über Euch.
L. Betty auch für Deine l. Eltern und Geschwister wünschen wir alles Gute.
Wenn wir im Zug sitzen und am Bestimmungs-Ort angelangt sind werden wir Euch Mitteilung machen, wenns nur eben [...].
L. Kurt schreibe an l. Siegfried wir kommen etwas näher zu ihm. Vielleicht führt der lb. Gtt. uns [...] dort zusammen! Ich denke jetzt nur an das Glück, dass Gtt. uns zusammengeführt und so eine liebevolle Umgebung habe, an meinen so innigst liebenden Mann. Mein Bild ist nicht so gut getroffen, es waren Passbilder, jedoch werdet Ihr mich darauf erkennen.
Nun nochmals in innigster Liebe und Herzlichkeit schließe ich Euch in meinem Herzen ein und seid tausendmal [...] geküsst
Eure Euch liebende Mutter
Philipp fügte hinzu:
Ebenfalls recht herzliche Grüße mit […]
Euer Vater
Lieber Kurt. Wenn Du mit Walter Verbindung hast schreibe ihm jede Adressenänderung von Dir u. Ihm d.V.[1]
„Meine lieben Kinder“ – das sind Bertas Söhne Kurt und Siegfried aus ihrer ersten Ehe mit Max Keller, der früh verstarb. Der „innigst liebende Mann“, von dem sie ihren Kindern erzählt, ist ihr zweiter Ehemann Philipp Moses. Sie hat den Witwer, dessen erste Frau im Dezember 1939 verstorben ist, nach ihrem Umzug von Warden nach Aachen kennengelernt und im Mai 1940 geheiratet. Da ihre beiden Söhne nach den Novemberpogromen aus Deutschland geflohen sind, haben sie Philipp Moses nicht mehr kennengelernt. Es scheint, als habe sie ihren letzten Brief an ihren Sohn Kurt geschickt, der wohl seinen Bruder in Palästina informieren sollte. Kurt war 1938 über Berlin nach Schweden geflohen. Sie bittet ihn, Siegfried zu informieren, dass sie in seine Nähe kommen werden – hat sie das wirklich geglaubt? Sie kannte die Adressen ihrer Kinder - wie ist sie darauf gekommen, dass sie nach Palästina reisen würden? War es die verzweifelte Hoffnung, dass Gott sie beschützen und es doch nicht in ein Lager gehen würde? Oder wollte sie ihre Söhne beruhigen? Ihnen Hoffnung geben, dass sie das Grauen überleben würden? Vielleicht sollten die Söhne zwischen den Zeilen lesen, weil die Briefe durch die Zensur gingen? Wir wissen es nicht.[2]
Berta Baum wurde in Gerolstein geboren[3]. Ihre Eltern Simon und Johanna, geborene Kahn, wohnten in der Sarresdorfer Straße. Nach Norbert, Ludwig, Erna und Rosa kam am 5. Mai 1890 Berta zur Welt, als sechstes Kind die Tochter Camilla.
Simon Baum war um 1880 aus Osann an der Mosel nach Gerolstein gezogen und betrieb einen Viehhandel.[4] Alle vier Töchter von Simon und Johanna verbrachten ihre Jugend in Gerolstein und zogen nach ihrer Heirat weg; Rosa und Camilla nach Paris und Erna nach St. Ingbert. Berta heiratete im Jahr 1919 ihren ersten Mann Max (Moises) Keller[5] und zog zu ihm nach Warden. Max hatte Landbesitz und war im Viehhandel tätig. 1920 wurde der erste Sohn, Kurt, geboren und 1923 der zweite Sohn, Siegfried. Als Soldat im Ersten Weltkrieg wurde Max Keller durch einen Senfgasangriff schwer verletzt und nicht mehr gesund. Er starb 1925, Siegfried war erst zweieinhalb Jahre alt.[6]
Max war Träger des Eisernen Kreuzes; er hatte seine Gesundheit und später sein Leben für Deutschland verloren; seine und Bertas Söhne hatten Namen, wie sie „germanischer“ gar nicht sein können: Kurt, abgeleitet von Konrad, im Althochdeutschen „der mutige (oder kühne) Ratgeber“ ; Siegfried, der Held der Nibelungensage.
Aber eine Zukunft hatten sie in Deutschland seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht. Nach dem Besuch der Volksschule Warden gingen die Brüder 1937 oder 1938, mit 17 bzw. 14 Jahren getrennt auf Hachschara, also in Ausbildungsstätten für junge Pioniere, die sie auf die Ausreise nach Eretz Israel und die Arbeit dort vorbereiten sollten. Mutmaßlich sorgte Berta Keller hier für ihre Kinder vor, für deren Zukunft und Leben sie in Deutschland keine Chance, wohl aber große Gefahr gesehen hat. Beide Hachscharot wurden in der Nacht vom 9. auf den 10. November überfallen.
Nach Kurts Erinnerungen war er in der von ihm so bezeichneten „Kristallnacht“ zu Hause bei der Mutter in Warden; der 9.November war sein Geburtstag, man könnte vermuten, dass er deshalb nicht in seiner Hachschara war.
Im Familienbuch Euregio findet sich ein Eintrag, in dem Kurt die Geschehnisse des 9.November schildert. Er berichtet, dass alle jüdischen Wohnungen und Häuser Wardens total vernichtet wurden, außer dem seiner Familie. „…wir hatten eine hochschwangere christliche Untermieterin, die wie besessen schrie, als die Bande bei uns eindringen wollte. Dann zogen die SA-Schweine ab mit dem Versprechen, bald wiederzukommen.“[7] Als die Nachricht kam, alle Juden über 18 sollten verhaftet werden, fuhr Kurt mit der Eisenbahn nach Berlin, wo er Bekannte hatte. Es glückte ihm, am 31. Dezember nach Schweden zu gelangen, wo er in der Landwirtschaft arbeitete, heiratete und sein weiteres Leben verbrachte. Er starb seinem Bruder Siegfried zufolge im April 2004.[8]
Siegfrieds Hachschara in Steckelsdorf (Brandenburg) wurde ebenfalls in der Pogromnacht überfallen. Er konnte sich mit einem Sprung aus dem Schlafzimmerfenster im zweiten Stock in den Garten retten und schlug sich nach Warden zu seiner Mutter durch. Dadurch entging er der Verschleppung nach Buchenwald, dem Los seines Ausbildungsleiters Friedrich Löwenthal und anderer Mitarbeiter.[9] Wie sein Bruder wusste Siegfried, dass er sich keine Hoffnung auf Entkommen vor der nationalsozialistischen Verfolgung zu machen brauchte. 1939 verabschiedete er sich von seiner Mutter auf dem Bahnsteig des Aachener Hauptbahnhofs, erst fünfzehn Jahre alt. Im Alter von 93 Jahren erinnert er sich an die Tränen seiner Mutter, die nun hoffte, er gelange in Sicherheit.[10] Tatsächlich erreichte Siegfried mit einer Jugend-Aliyah Haifa/Israel. Die Mundharmonika, die ihm seine Mutter bei der Abreise schenkte, hatte er im Alter immer noch.[11]
Berta Keller schrieb Siegfried zufolge ihren Söhnen viele Briefe, darunter auch den letzten, der in dieser Biografie abgedruckt ist.“ For the first four years of his life in pre-state Palestine, Keller received a letter from his mother every two weeks, tissue-paper thin letters crammed with her cramped, Gothic-style German cursive.“[12]
Die Brüder blieben in Kontakt durch Briefe und später durch gegenseitige Besuche. Shimon übergab das letzte Briefdokument der Gedenkstätte Yad Vashem.
Nach der Flucht der Söhne aus ihren Ausbildungsstätten hatte Berta ihren landwirtschaftlichen Besitz in Warden verkauft und war nach Aachen gezogen. Sie war wohl wegen Artikel II der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens vom 3. 12. 1938 dazu gezwungen worden. Sie wohnte zunächst am Augustinerbach 30 und zog am 29. Juni 1939 zum Adalbertsteinweg.[13] Man fragt sich, was sie in Aachen, in Deutschland hielt…warum sie nicht ebenfalls das Land verlassen hat, nachdem ihre Söhne so fern von ihr waren. Vielleicht hatte sie schon bald Philipp Moses getroffen, den sie am 22. Mai 1940 heiratete.[14] Ab dem 24. Mai 1940 wohnte sie mit ihm in dessen Haus Steinkaulstraße 1.[15] Wie in der Biografie Philipp Moses‘ erwähnt, versuchte dieser, eine Einreisegenehmigung in die Vereinigten Staaten zu bekommen, wohin sein Sohn Walter 1939 rechtzeitig ausgewandert war; die Erlaubnis kam zu spät; er und seine Frau durften Deutschland nicht mehr verlassen.
Angaben von Philipp Moses‘ Tochter Helma[16] zufolge musste ihr Vater 1941 (ein genaues Datum ist nicht angegeben und kann mangels Quellen nicht ermittelt werden) sein Haus verlassen und in die Promenadenstraße 21, ein sogenanntes Judenhaus, ziehen. Seine Tochter, zu der Zeit in Berlin lebend, wusste vielleicht nichts von der zweiten Ehe ihres Vaters, denn sie erwähnt in ihrem Entschädigungsantrag Berta nicht. Am 3. März 1942 zogen Berta und Philipp Moses in das Israelitische Altenheim „Horst Wessel-Straße“ 87, heute Kalverbenden. In ihrem letzten Brief schreibt sie von „Glück“ und „liebevoller Umgebung“, sicher bezogen auf ihren „innigst liebenden Mann“ – von Mai 1940 bis irgendwann im Jahr 1941 hatte sie beides wohl noch in Philipps Haus, danach gab es drangvolle Enge in den ghettoartigen Unterkünften, in die sie gezwungen wurden. Am 25. Juli 1942 wurden beide nach Theresienstadt deportiert. Die Umstände dieser Verschleppung sind in der Biografie Philipp Moses‘ beschrieben.
Philipp Moses starb einen Monat nach der Deportation in Theresienstadt.
Berta musste noch einen Transport von Theresienstadt nach Auschwitz erleiden. Am 22. Januar 1943 wurden 2006 Theresienstädter Häftlinge schriftlich benachrichtigt, dass sie für einen „Arbeitstransport“ eingeteilt worden seien; sie durften einen Koffer pro Person mitnehmen. Der 1941 aus Prag deportierte Egon „Gonda“ Redlich, Leiter der Kinder- und Jugendabteilung im Ältestenrat des Ghettos, schrieb in seinem Tagebuch[17]: „Unsere Nerven sind gespannt, unsere Verantwortung wiegt Tonnen schwer. Oft entscheidet der Zufall.“[18] Zu den für diesen Transport vorgesehenen 693 Frauen zwischen 46 und 60 Jahren zählte auch Berta Moses.Wie alle anderen bekam sie eine neue Deportationsnummer (632) für den Transport mit der Bezeichnung Cr zugewiesen, die sie um den Hals zu tragen hatte. Die drei Kilometer zum Bahnhof Bauschowitz mussten die Häftlinge, die noch laufen konnten, zu Fuß zurücklegen; alle anderen wurden mit Lastwagen oder PKW transportiert, darunter auch einundvierzig Kinder unter 12 Jahren und acht Frauen und Männer über 85.
Am 23. Januar 1943 fuhr der Deportationszug über Dresden, Breslau und Kattowitz und erreichte das Lager Auschwitz-Birkenau am 24. Januar. Alle, die nicht arbeitsfähig waren, wurden sofort nach ihrer Ankunft zu den Gaskammern getrieben, wo sie ermordet wurden.[19] Berta Moses war jetzt 53 Jahre alt. Ob sie noch arbeitsfähig war? Durch Arbeit vernichtet wurde? Sofort oder später ins Gas getrieben wurde? Sie gehört nicht zu den drei Personen ihres Transports, die das Grauen überlebt haben.
1992 reichte ihr Sohn Shimon ein Gedenkblatt für seine Mutter bei YadVashem ein.[20]
Aachen, im Juli 2020
Verzeichnis der Abbildungen mit Quellenangabe:
[1] Passfoto (?) Berta Keller: Fotogalerie in www.euregio-familienbuch.de
[2] Briefdokument mit Transkription: www.yadvashem.org/de/exhibitions/last-letters/
Fußnoten:
[1] www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/last-letters/indes.asp#/home. Die beiden weiteren Briefblätter befinden sich im Bild-Anhang
[2] Wer Betty ist, war nicht zu ermitteln; Walter ist Philipp Moses‘ Sohn aus der ersten Ehe
[3] Standesamt Gerolstein, Geburtsurkunde
[4] www.forumwelt.de Christop Stehr, Die jüdische Bevölkerung von Gerolstein
[5] Standesamt Gerolstein, Heiratsurkunde
[6] Shimon Keller, www.euregio-familienbuch.de
[7]www.euregio-familienbuch.de Kurt Keller
[8] ebenda
[10] As you already know our father Sigfried (Shimon) Keller is still with us at age 98. He succeeded to come to Israel in 1939, with his mother Berta’s encouragement and push. He remembers her sad face and look at the train station where she left him for the last time/ He was 15. His only brother, Kurt, at 17, succeeded to run away to Sweden, where he lived for the rest of his life, and his children, Eli (he is about 78) and Aviva (she is about 76) still live with their families. E-Mail Noga Nabarro vom 28.06.2021
[12] ebenda
[13] Stadtarchiv Aachen Hausbücher; E-Mail-Auskunft Angelika Pauels vom 13.01.2020, Stadtarchiv Aachen
[14] Vermerk des Standesamtes Aachen auf der Heiratsurkunde der ersten Eheschließung des Standesamtes Gerolstein
[15]Stadtarchiv Aachen Hausbuch 4343 S. 7,
[16] vgl. die Biografie von Philipp Moses
[17] https://www.pamatnik-terezin.cz/personalities/egon-redlich-2
[18] https://deportation.yadvashem.org/
[19] https://deportation.yadvashem.org. Transport CR, Zug Da 103 von Theresienstadt, Getto, Tschechoslowakei nach Auschwitz Birkenau, Vernichtungslager, Polen am 23/o1/1943