Otto Blumenthal
Von Volkmar Felsch und Corinna Broeckmann, Aachen
28 Jahre lang war Otto Blumenthal Professor für Mathematik an der Technischen Hochschule (TH) Aachen, als er im September 1933 entlassen wurde. Bis 1939 hoffte er, in Aachen bleiben zu können, denn diese Stadt war zu seiner Heimatstadt geworden. Er liebte Aachen trotz all der leidvollen Erfahrungen und Demütigungen, die er hier zwischen 1933 und 1939 hatte erdulden müssen, und wie wir aus einem Brief seines Mitgefangenen in Theresienstadt Gert Salomon wissen, berührte es ihn mehr als er zulassen mochte, als er während seiner Internierung in Theresienstadt 1944 noch kurz vor seinem Tode von den Kriegszerstörungen in Aachen erfuhr.
Aufgewachsen war er in Frankfurt am Main, wo er am 20. Juli 1876 geboren wurde. Sein voller Name war Ludwig Otto Blumenthal. Seine jüdische Familie lebte bereits seit mehreren Generationen in Frankfurt am Main. Sein Vater Ernst Blumenthal war Arzt, sein Großvater war Kaufmann gewesen. Seine Mutter Eugenie Blumenthal, geborene Posen, stammte aus einer Offenbacher Kaufmanns- und Lederfabrikantenfamilie.
Otto Blumenthal besuchte das humanistische Goethe-Gymnasium in Frankfurt und legte dort 1894 das Abitur ab. Danach begann er mit dem Studium zunächst der Medizin (ein Semester), dann der Mathematik und der exakten Naturwissenschaften in Göttingen.
Im Mai 1898, also im Alter von 21 Jahren, promovierte er bei David Hilbert, einem der bedeutendsten Mathematiker seiner Zeit, mit dem Prädikat summa cum laude, und im selben Jahr legte er auch das Examen zur Berechtigung für den Unterricht an Höheren Schulen ab. Nach weiteren Studien, zu denen er insbesondere im Wintersemester 1899/1900 für zwei Semester nach Paris ging, habilitierte er sich 1901 in Göttingen und arbeitete dann dort als Privatdozent. In diese Zeit fällt auch eine Lehrstuhlvertretung in Marburg, die er im Frühjahr 1904 für zwei Semester übernahm. Im Herbst 1905 wurde er schließlich an die „Königliche Technische Hochschule“ in Aachen berufen und dort als Ordinarius verbeamtet.
In den folgenden 28 Jahren, unterbrochen nur durch seinen Militäreinsatz im Ersten Weltkrieg, arbeitete Otto Blumenthal mit großem Engagement als Professor an der TH. Er arbeitete gern und viel. Zusätzlich zu seinen umfangreichen Aufgaben als Hochschullehrer übernahm er 1906 auf Bitten seines Doktorvaters David Hilbert noch das Amt des geschäftsführenden Redakteurs der „Mathematischen Annalen,“ der damals bedeutendsten mathematischen Zeitschrift.
Nebenbei engagierte er sich in verschiedenen Gremien und Organisationen in und außerhalb der Hochschule, zum Beispiel als Mitbegründer und langjähriger Leiter des Außeninstituts der TH und als langjähriges Vorstandsmitglied und zeitweiliger Vorsitzender der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Außerdem gehörte er verschiedenen Aachener Vereinen an, zum Beispiel der Aachener Mathematischen Gesellschaft (als Gründer und langjähriger Vorsitzender), dem Verein für das Deutschtum im Ausland, der Deutsch-Französischen Gesellschaft, der Deutsch-Niederländischen Gesellschaft zu Aachen (als Gründungsmitglied und Schriftführer) und der Gesellschaft der Freunde des neuen Russlands sowie, seinen pazifistischen Überzeugungen folgend, der Deutschen Friedensgesellschaft (als zeitweiliges Vorstandsmitglied der Ortsgruppe Aachen), der Deutschen Liga für Völkerbund und der Deutschen Liga für Menschenrechte.
1908 heiratete Otto Blumenthal Mali Ebstein, die Tochter eines Göttinger Medizinprofessors. Genauso wie er selbst stammte sie aus einem jüdischen Elternhaus. Da er aber 1894 kurz nach seinem Abitur zum Protestantismus konvertiert war, ließ sie sich jetzt auch taufen. Später war Otto Blumenthal offensichtlich ein aktives Mitglied der evangelischen Kirchengemeinde Aachen, denn im Mai 1926 wurde er auf Vorschlag von Pfarrer Wilhelm Landgrebe als Gemeindeverordneter in die so genannte Größere Gemeindevertretung gewählt. Er gehörte ihr bis zum Januar 1933 an.
1911 wurde die Tochter Margrete geboren, 1914 der Sohn Ernst. Schon damals träumte Otto Blumenthal, der mit seiner Familie in der Rütscherstraße zur Miete wohnte, von einem eigenen Haus mit einem Garten, aber es dauerte noch zwanzig Jahre, bevor es ihm und seiner Frau gelang, diese Idee zu verwirklichen und sich in der Limburger Straße ein eigenes „Häuschen“ zu bauen. Als sie es am 01. Oktober 1933 bezogen, sah es aus wie die Erfüllung seines Traumes, doch die nationalsozialistische Verfolgung betrog ihn darum. Zu sehr hatten die politischen Ereignisse des Jahres 1933 zu dieser Zeit bereits in sein Leben eingegriffen.
Spätestens mit der so genannten Machtergreifung Hitlers konnten die nationalsozialistisch gesinnten Angehörigen der Universität ungehindert und unterstützt durch die Politik der neuen Machthaber alles daran setzen, aus dem einen oder anderen Grund missliebige Professoren loszuwerden. Am 18. März 1933 wurde Otto Blumenthal zusammen mit anderen Hochschullehrern von der Aachener Studentenschaft (AStA) beim Reichskommissar im Erziehungsministerium Bernhard Rust zu Unrecht als Marxist denunziert, und es wurde seine Entfernung aus dem Hochschuldienst gefordert. Dabei beriefen sich die Studenten auf Vorträge, die Otto Blumenthal über das mathematische Bildungswesen in Russland gehalten hatte, und warfen ihm Freundschaft zum russischen Bolschewismus und „Sowjetkult“ vor.
Das kurz danach erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlaubte es, jüdische und kommunistische Beamte aus dem Staatsdienst zu entfernen, jüdische Beamte allerdings mit Ausnahme jener, die schon vor dem Ersten Weltkrieg verbeamtet waren oder im Ersten Weltkrieg an der Front gekämpft hatten. Da Otto Blumenthal sogar beide dieser Bedingungen erfüllte, konnte er also, zumindest damals, nicht entlassen werden, nur weil er jüdischer Herkunft war.
Für Kommunisten galt diese Ausnahmeregelung nicht. Otto Blumenthal wurde am 27. April 1933 als angeblicher Marxist verhaftet und von der politischen Polizei in „Schutzhaft“ genommen. Zwei Wochen später wurde er zwar wieder aus dem Gefängnis entlassen, aber gleichzeitig von seiner Tätigkeit als Hochschullehrer beurlaubt. Am 13. Juli wurde er zur Vernehmung ins Regierungspräsidium einbestellt, wo es ihm gelang, den Vorwurf, Kommunist zu sein, zu entkräften. Der Regierungspräsident kam zu dem Schluss, Otto Blumenthal sei nicht Kommunist, sondern wohl eher Idealist, und habe sich mit der Sowjetrepublik vor allem aus Lehrgründen beschäftigt.
Dennoch durfte er nicht mehr auf seinen Lehrstuhl an der TH zurückkehren, und am 22. September 1933 wurde er endgültig aus dem Staatsdienst entlassen. Als offizieller Entlassungsgrund wurde dabei seine Mitgliedschaft in der Deutschen Liga für Menschenrechte angegeben, aber aus den Akten geht hervor, dass auch die Tatsache, dass er aus einer jüdischen Familie stammte, bei der Entscheidung eine Rolle spielte.
Otto Blumenthals Sohn Ernst, der 1932 am Kaiser-Wilhelm-Gymnasium, dem heutigen Einhard-Gymnasium, sein Abitur gemacht hatte und an der TH studierte, konnte sein Studium nach der Entlassung des Vaters dort nicht mehr fortsetzen und ging deshalb noch 1933 zum Studium nach Manchester in England. Seine Tochter Margrete, die nach ihrem Abitur am Aachener Gymnasium St. Ursula in Köln studierte und damals gerade an ihrer Dissertation arbeitete, konnte ihre Promotion noch ungehindert zu Ende führen. 1936 emigrierte sie ebenfalls nach England.
Otto Blumenthal selbst blieb mit seiner Frau in Aachen und setzte auch nach seiner Entlassung seine wissenschaftliche Arbeit fort. Er schrieb eine viel beachtete Biographie seines Doktorvaters David Hilbert und hielt bis 1935 noch eine Reihe von Vorträgen im Ausland, zum Beispiel in der Schweiz, den Niederlanden, Belgien und Bulgarien. Seine Arbeit als Mitherausgeber der „Mathematischen Annalen“ konnte er trotz einiger Versuche, ihn aus der Redaktion zu drängen, noch bis 1938 fortsetzen. Dann allerdings musste er auch diese Tätigkeit, die ihm sehr am Herzen lag, einstellen.
Während dieser ganzen Zeit bemühte er sich intensiv, irgendwo im Ausland eine neue Stelle zu finden. Seine intensiven Bemühungen blieben allerdings trotz aller Anstrengungen und vieler Bewerbungen vergeblich. Es gab zu viele Kollegen, die in der gleichen Situation waren wie er, und die meisten von ihnen waren deutlich jünger. Dabei waren seine Ansprüche außerordentlich bescheiden. Er hätte sogar eine Stelle als Sprachlehrer angenommen, was er durchaus gekonnt hätte, da er fließend Englisch, Französisch und Russisch sprach und noch vier weitere Fremdsprachen leidlich beherrschte. Später lernte er sogar noch Niederländisch.
Nach der Reichspogromnacht vom 09. November 1938 nahmen die Schikanen, denen Otto Blumenthal und seine Frau ausgesetzt waren, immer mehr zu. Wie alle deutschen Juden mussten sie eine „Judenvermögensabgabe“ in Höhe von 20% ihres Vermögens als so genannte „Sühneleistung“ zahlen. Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung, deren Vorsitzender er gewesen war und deren Vorstand er bis 1933 angehört hatte, strich ihn aus ihren Listen. Ihre Krankenversicherung kündigte ihnen fristlos und ohne Begründung. Ihr Tafelsilber und ihr Schmuck wurden beschlagnahmt. Ihre gesellschaftlichen Kontakte in Aachen waren sehr zusammengeschrumpft.
Nach langem Zögern beschlossen sie deshalb im März 1939, ihr Haus zu verkaufen und „auszuwandern.“ Das einzige ausländische Angebot, das Otto Blumenthal hatte, war eine „Repetitortätigkeit“ in Delft. Das war keine bezahlte Stelle, sondern im Grunde genommen nicht mehr als die Erlaubnis, auf eigene Rechnung privaten Nachhilfeunterricht für Studenten der Technischen Hochschule in Delft anzubieten, reichte aber aus, um ihnen die Einreise in die Niederlande zu ermöglichen. Eine Arbeitserlaubnis für die Niederlande erhielt Otto Blumenthal nicht. Für seinen Lebensunterhalt versprach ein akademischer Hilfsfonds in Amsterdam aufzukommen. „Wir werden von Wohltätigkeit unterhalten werden“ notierte er in seinem Tagebuch, und zwei Wochen später: „Können wir diese traurig kleinen Verhältnisse annehmen?“
Eine Alternative bot sich den Blumenthals nicht. So begannen vier anstrengende Monate, in denen sie nicht nur ihr Haus verkaufen und den Haushalt auflösen, sondern auch eine große Menge von Formalitäten erledigen mussten. Neben der so genannten „Judenabgabe“ mussten sie jetzt noch eine so genannte „Reichsfluchtsteuer“ bezahlen, eine weitere Schikane, die von den Nazis zur Ausplünderung der Juden eingeführt worden war. Möbel und Bücher durften sie mitnehmen, aber kein Geld und keine Devisen. Ihre Konten blieben bei ihrer Aachener Bank zurück und wurden später vom deutschen Staat eingezogen, einschließlich des Verkaufserlöses ihres Hauses.
Am 13. Juli 1939 nahmen sie endgültig Abschied von Aachen und fuhren per Bahn vom Aachener Westbahnhof nach Utrecht. Ein protestantisches Hilfskomitee unterhielt dort in einem nahe gelegenen Landhaus ein Heim für geflohene deutsche jüdische Akademiker und hatte ihnen darin für eine Übergangszeit ein Zimmer angeboten. Die Umstellung von ihrem gewohnten Lebensstil fiel ihnen zunächst sehr schwer, aber nach einigem Suchen konnten sie schon drei Monate später in eine richtige Wohnung in Delft umziehen, die sie mit ihren bis dahin in einer Spedition untergestellten Aachener Möbeln, Teppichen, Büchern und Bildern gemütlich einrichteten. Es war zwar alles viel kleiner als in Aachen, aber bis zum Ende des Jahres 1939 kehrte doch wieder ein Hauch von Normalität in ihr Leben ein.
Vor seinem Umzug nach Delft unternahm Otto Blumenthal im Sommer 1939 noch zwei seit langem geplante Reisen nach Lüttich und nach England. Nach Lüttich fuhr er bereits sechs Tage nach seiner Ankunft in den Niederlanden, um dort auf einem mathematischen Kongress einen Vortrag zu halten, zu dem er ein halbes Jahr zuvor eingeladen worden war. Es bedeutete ihm viel, zum ersten Mal seit vier Jahren wieder einmal über Mathematik vortragen und die ihm vertraute Atmosphäre einer internationalen Tagung genießen zu können. Die zweite Reise war jedoch noch viel wichtiger. Es gelang ihm, für sich und seine Frau ein Besuchervisum für England zu erhalten, so dass sie am 20. August 1939 nach London und Manchester fahren und endlich wieder einmal ihre Kinder sehen konnten. Diese Reise stand allerdings unter keinem guten Stern: Wegen der drohenden Kriegsgefahr mussten sie sie vorzeitig abbrechen und in die Niederlande zurückkehren (siehe unter Mali Blumenthal).
In Delft begann Otto Blumenthal wieder, sich intensiv mit mathematischen Problemen zu beschäftigen. Er besuchte mathematische und physikalische Kolloquien an der Universität und bekam von seinen dortigen Kollegen einige bezahlte Aufträge vermittelt, mit denen er etwas Geld zu der Unterstützung, von der sie lebten, hinzuverdienen konnte. Das waren zum Beispiel Übersetzungen von wissenschaftlichen Arbeiten aus dem Russischen oder die Aufbereitung der mathematischen Grundlagen in neu erschienenen physikalischen Arbeiten. Mit den angestrebten Repetitorien klappte es praktisch nicht. Erst im August 1940 fand er einen Studenten, der ein Jahr lang bei ihm Privatstunden nahm, aber er blieb der einzige.
Am 10. Mai 1940 überfielen deutsche Truppen die Niederlande. Otto Blumenthal notierte in seinem Tagebuch:
„4 Uhr aufgewacht durch Geschützfeuer und Fliegerlärm. Mindestens 10 Flugzeuge. Eines fliegt ganz niedrig, eiserne Kreuze daran, aus einem fallen langsam 3 gelbe Gegenstände, wahrscheinlich Fallschirmabsprung. Radio brüllt im Unterhaus. Sehr gegen Willen zur Überzeugung gekommen, dass Krieg ist. 8 Uhr ausgegangen, um Briefe in den Kasten zu tun. Gleich arretiert und auf die Wache gebracht. Dort 1 ½ Stunden gesessen, bis sich ein guter Unteroffizier meiner erbarmt und Mali benachrichtigt. Kommt mit Pass zurück, kurz darauf höfliche Entlassung. Mali hat mich während der Verhaftung bei [dem Delfter Mathematikprofessor] Schouten gesucht, der kreideweiß gewesen sein soll. Nachmittags mehrfach Flak und MG.“
Die Blumenthals waren zutiefst erschreckt und packten einen Koffer mit Notgepäck, doch es geschah zunächst einmal nichts. Ihr Leben verlief weiter relativ normal, bis sie am 06. September 1940 plötzlich den Befehl erhielten, Delft innerhalb von zwei Tagen zu verlassen, da die Region „judenrein“ gemacht werden sollte. Ein holländischer Kollege schaffte es, ihnen auf die Schnelle ein Privatquartier in Arnheim zu besorgen, wo sie vorübergehend unterschlüpfen konnten, bis sie zehn Tage später in einer Pension in Utrecht eine neue Unterkunft fanden. Ihre Aachener Möbel mussten sie allerdings in Delft zurücklassen, und alle ihre späteren Bemühungen, noch einmal nach Delft zurückkehren zu dürfen, und sei es auch nur für einen Tag, blieben vergeblich.
Auch in Utrecht setzte Otto Blumenthal seine wissenschaftlichen Arbeiten fort. Wichtig war ihm zudem ein Bibelkreis, an dem er und seine Frau regelmäßig teilnahmen und in dem er sich aktiv engagierte. Sonntags ging er meist in die Kirche. Überhaupt versuchten die Blumenthals, ihr Leben so normal wie möglich zu gestalten, aber es wurde ihnen immer schwerer gemacht.
Ab November 1941 durfte Otto Blumenthal die Universitätsinstitute nicht mehr betreten, im April 1942 tauchten „Voor Joden verboden“-Schilder in den Parks auf, ab Mai mussten er und seine Frau einen Judenstern tragen, ab Juli durften sie keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen und nur noch zu bestimmten Zeiten nachmittags einkaufen gehen, wobei viele Waren häufig bereits vormittags ausverkauft waren. Sie mussten eine Ausgangssperre zwischen 20 Uhr abends und 8 Uhr morgens einhalten, und die Häuser ihrer nichtjüdischen Freunde durften sie nicht mehr betreten.
Eine besonders üble Schikane war, dass sie von den deutschen Behörden in kurzen Abständen immer wieder aus ihren „Wohnungen“ vertrieben wurden, die in der Regel sowieso nur aus einem Zimmer bestanden, in dem sie zur Untermiete wohnten, so dass sie sich schließlich fast permanent gezwungen sahen, auf Wohnungssuche zu gehen, was für Juden immer schwieriger wurde.
Am 19. August 1942 erhielten sie einen Eilbrief vom Jüdischen Rat, in dem ihre Evakuierung nach Amsterdam für den 25. August angekündigt wurde. Einen Tag vor der Abfahrt stellte sich dann allerdings heraus, dass es nicht nach Amsterdam, sondern in das Lager Westerbork gehen sollte. Auch intensive Bemühungen ihrer niederländischen Freunde konnten nicht verhindern, dass sie sich zum Bahnhof begeben und in den Zug nach Westerbork steigen mussten. Bei einem Zwischenstopp in Amersfort wurden sie dann aber zu ihrer größten Überraschung aus dem Zug geholt und angewiesen, nach Utrecht zurückzufahren. Ein niederländischer Pastor hatte es doch noch geschafft, sie frei zu bekommen.
Fünf Tage später notierte Otto Blumenthal in seinem Tagebuch: „Unser Transport soll bereits von Westerbork nach Osten weiter sein.“ Er erfuhr nicht mehr, dass dies kein Gerücht, sondern tatsächlich wahr war. Zwei mit den Blumenthals befreundete Frauen, mit denen sie am 25. August im Zug von Utrecht bis Amersfort zusammengesessen hatten, wurden am 28. August von Westerbork weiter nach Auschwitz deportiert und dort direkt nach ihrer Ankunft am 31. August in den Gaskammern ermordet.
Die Blumenthals durften noch ein halbes Jahr in Utrecht bleiben, aber am 13. April 1943 wurde öffentlich bekannt gegeben, dass alle Juden die Stadt bis zum 23. April verlassen müssten. Sie bekamen die Order, sich am 22. April im Auffanglager Vught des Konzentrationslagers 's-Hertogenbosch einzufinden, und diesmal gab es für sie keine Ausnahme mehr. Nach 18 Tagen in Vught, wo sie gleich anfangs getrennt und im Verlauf ihres Aufenthalts unmenschlich behandelt wurden, wurden sie als über Sechzigjährige in das Lager Westerbork verlegt. Elf Tage später starb Mali Blumenthal.
Nach dem Tod seiner Frau ersuchte Otto Blumenthal um eine Verlegung in das KZ Theresienstadt, weil er hoffte, dort seine Schwester wieder zu treffen, von der er wusste, dass sie im Juli 1942 dorthin verschleppt worden war. Doch als er am 20. Januar 1944 schließlich in Theresienstadt ankam, erlebte er eine schreckliche Enttäuschung, als er erfuhr, dass seine Schwester bereits im Juni 1943 gestorben war.
Im Frühjahr 1944 erkrankte er schwer an einer Lungenentzündung und der so genannten „Theresienstädter Krankheit“, der Ruhr. Er erholte sich zwar vorübergehend, hatte auch einige tschechische Freunde im Lager gefunden, die ihn unterstützten, erkrankte aber schon wenige Monate später erneut und starb am 13. November 1944 im Alter von 68 Jahren.