Gedenkbuch 2006

Leonard (Leo) Lipmann Pakula

Von Jakob Israel II Keppels-Lipmann Pakula, Heerlen (Niederlande)

Wer war mein Vater, wofür lebte er, was waren seine moralischen, ethischen und humanen Auffassungen? Wo stand seine Wiege und wo fand er sein Ende? Und welchen Platz, welche Stellung nahm er in unserem Leben ein und ganz speziell in meinem persönlichen Leben?

Leonard Lipmann Pakula (Rufname Leo) wurde 1890 am Ende des neunzehnten Jahrhunderts geboren, am 25. Januar 1890 in einer jüdischen Familie. Vater Jakob Israel war Rabbiner, Kaufmann und Lizenzhalter für alkoholische Getränke in Lodz, wo eine große Anzahl Juden ihr Zuhause hatte. Der Name der Mutter war Sara Miriam Judith. Ihr Mädchenname ist mir unbekannt. Leonard wuchs in familiären Umständen mit seinen Geschwistern auf. Er studierte die ungeschriebenen Bücher und lernte das Schuhemachen. Es war die Zeit der Haskala- und Bund-Bewegungen, raus aus dem Stettlmilieu.

Er war ein friedfertiger junger Mann und wie es derzeit üblich war, wurden Juden zur Armee einberufen, und das wäre für viele Jahre gewesen. Aber Vater war bedachtsam und rief zur Emigration nach Deutschland auf. Sein Bruder Salomon ging mit ihm und eine Schwester war auch schon in Deutschland. Soweit meine Kenntnisse, was mir mein Vater als Kind erzählte.

Er kam nach Pirmasens, wo er und Salomon eine kleine Schuhfabrik gründeten. Vater war der Fleißige, der Macher, und Salomon der Finanzmann. In der Zeit heiratete Vater in eine betuchte und gehobene Familie ein. Er sprach nicht darüber. Meine Schwester Gertrud wurde geboren und später der kleine Jakob Israel. Das kleine Jaköble verstarb und Schuld daran sollte die Mutter gewesen sein. Dadurch zerbrach die erste Ehe. Trude wurde Vater zugeschrieben. Dann trat Funkstille ein.

Salomon hatte sich nach Aachen abgesetzt und eröffnete ein Schuhgeschäft am Büchel 5. Hier fängt auch unsere Geschichte an. Meine Mutter war eine geborene Keppels, verwitwet aus der ersten Ehe mit einem Holländer, Herrn Paumen. Ihre Mutter war eine geborene von der Mühlen, eine alteingesessene Aachenerin.

Wie es zu dieser Hochzeit kam, habe ich später von meiner Mutti erfahren. Wir wollen das hier nicht erwähnen, da es ja um das Leben meines lieben Vaters geht. Nur noch eben kurz hinzugefügt, dass der Johann Paumen früh starb und Mutti sehr jung Witwe wurde mit einem Mädchen (man soll ja um des Willens der Emanzipation den Damen den Vortritt lassen), Käthe und Willie und Ludwig. Da Mutti aus gutem Holz geschnitzt war und früh half, die Haushaltskasse aufzubessern, war sie sehr geschäftstüchtig. Vor ihrer Ehe war sie zuletzt Verkäuferin bei Leonard Tietz gewesen. Sie hat die Geschäfte, ein Schuhgeschäft und einen Antiquitätenhandel, weiter geführt. Die Kinder kamen auf ein Internat.

Salomon Pakula hatte immer Schwierigkeiten, seine Wechsel zu bereinigen. Mutter als Geschäftskollegin hat ihm dabei geholfen, und so freundeten sie sich an. Und wie er hörte, dass meine Mutter das Schuhgeschäft Augustinerbach 26 vermieten wollte, kam das Gespräch auf seinen Bruder Leo. Der wollte auch nach Aachen kommen und suchte ein Ladenlokal. Hier beginnt die Geschichte des Leonard Lipmann Pakula in Aachen – Belgien – den Niederlanden – Belgien – Mechelen – Auschwitz Birkenau.

Er mietete das Ladenlokal der Witwe Agnes Anna Maria Paumen-Keppels und es entwickelte sich eine Freundschaft. Sie fanden beide, schon durch das Leben gezeichnet, Gefallen aneinander, gingen zusammen ins Theater und zu Konzerten in der Synagoge. Aus Freundschaft wurde Liebe.

Meine Mutter verriet mir später, dass er zärtlich gewesen sei, einfühlsam und hilfsbereit. Ihre Beziehung wurde fester und "het Nies" beschloss zu konvertieren, gegen den Willen ihrer Eltern und die ganze katholische Mischpoche. Und da die Aachener Jüdische Kultusgemeinde eine liberale oder Reformgemeinde war, wurde sie unter Rücksichtnahme auf ihre Familie heimlich in die Jüdische Gemeinde aufgenommen.

Aber in aller Öffentlichkeit auszugehen, vermieden sie, auch um das Geschäft ihrer Eltern, ein großes Lebensmittelgeschäft Ecke Judengasse und Annuntiatenbach nicht zu gefährden. Deshalb wurde in Rücksprache mit Großvater in Lodz die religiöse Ehe, die Choepa von einem Rabbiner in London geschlossen. Die Ketuba, der Heiratsvertrag, wurde aufgehoben.

In dieser Ehe wurden Margot und ich, das Jaköble, geboren. In der Zeit hatten sie das Schuhgeschäft von Onkel Salli, Salomon oder Sjlomo übernommen, samt der noch nicht beglichenen Wechsel. Tante Sara und Onkel Salomon waren nach Lodz zurückgekehrt. Das Geschäft lief glänzend und man beschloss, in der Rolandstraße zu bauen und das war 1929 nur im Goldmarkstandard möglich.

Alles verlief ruhig, bis auf die Familie mütterlicherseits und einige Nachbarn. Vater war ein herzensguter Mensch, der sich bemühte, mit Käthe, Willie und Ludwig gut auszukommen, denn da war ja noch immer die Erinnerung an ihren Vater. Es gab immer wieder Reibereien, denn es gab "drei Sorten Kinder".

Er ging freitags abends zur Synagoge, man hatte Respekt vor ihm, denn er korrespondierte über theologische Fragen. Er war ein Träumer, er war zu gut und meinte, dass auch andere so sein müssten. Bis das Jahr 1933 kam. Aber schon Jahre zuvor schien es einen Wechsel im Verhalten Juden gegenüber zu geben.

Der Judenboykott war das Ende des Schuhgeschäfts am Büchel 5. Samstags zogen die finsteren Gesellen vor dem Geschäft auf und hinderten die Kunden am Einlass. Mutter stellte sich breit in die Tür und bat die Kundschaft hinein zu kommen. Aber letztlich war alle Mühe vergebens. Das Geschäft wurde geschlossen und zeitweise in der Rolandstraße im Keller fortgesetzt.

Es war ein finanzieller Verlust, Vater bekam keine Beschäftigung und die Rollen wurden getauscht. Mutter suchte sich eine Stelle und Vater führte den Haushalt. Aber das war ja erst der Anfang vom Ende.

Wir wollen hier nicht ausführlich auf die Schikanen eingehen, die uns zuteil wurden. Mutter behielt ihren klaren Kopf, ihren Mut und die Liebe zu Vati. Die Familie entfernte sich immer mehr von uns, von "het Nies" und ihrem Juden und den drei Judenbalgen. Sie waren ja begeistert vom Adolf, der würde es uns schon zeigen.

So langsam wurden die Maßnahmen schlimmer. Wir beschränken uns nun auf Daten.

1938 Reichskristallnacht / Reichspogromnacht: Vater und die Trude wurden staatenlos und sollten daher über die grüne Grenze nach Polen abgeschoben werden. Trudi, und darauf komme ich noch, kehrte zurück. Vater lag im Krankenhaus. Er hatte inzwischen im Schulgarten die höheren Klassen zu Chalutzim für Kibbutzim in Palästina ausgebildet. Was nun, die Flucht? Die in die USA hatte er abgelehnt. Auf Anraten unseres Freundes Dublon blieb noch ein Weg übrig: nach Belgien.

1939 wurden Vater und Trudi für 10.000 Reichsmark durch Menschenschleuser nach Antwerpen gebracht, aber von Mutter, die alles riskierte, wieder nach Holland (Heerlen/Limburg) rübergeholt. Sie blieben illegal bei einem Schuhmacher. Als Arbeitslohn erhielten sie ein kleines Zimmer, Kost und Logis sowie einen Silbergulden pro Woche. Wir drei, Mutter, Margot und ich zogen nach Schaesburg. Vater zog zu uns, wurde aber durch unsere Vermieterin verraten.

Ende 1939 wurde Vater trotz des Bemühens des Bürgermeisters Lempers deportiert, über Roosendaal nach Belgien. Mutter hat ihn unterstützt, durch knochenharte Feldarbeit, Kartoffeln ernten, Obst pflücken, Putzstellen, sonntags, am Sabbat, selbst drei Stellen. Von den paar Gulden, die sie als Lohn bekam, bekam Vater den Hauptanteil überwiesen nach Antwerpen.

Wir selbst bekamen sechs Gulden pro Woche als Unterstützung. So hat sie Papa und Trudi unterstützt, so lange es möglich war. Und postwendend kamen Briefe oder Karten von ihnen zurück. Trudi schrieb nie viel, bis die letzte Karte kam. Eine Zeit lang bekamen wir keine Post.

Durch die belgischen Autoritäten erfuhren wir, dass er in Bilzen-Kurnigen bei Hasselt interniert wurde. Diese letzte Karte hat meine Mutter leider verbrennen müssen. Aber der Inhalt ist uns für immer erhalten geblieben.

Er nahm Abschied, er musste sich im Sammellager Dussart-Kaserne in Mechelen melden. Das war 1942. Danach war Stille.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir Nachforschungen anstellen können. Erst haben wir gewartet, Tage, Wochen, Monate, bis zu einem Jahr. Wann kommen Vati und Trudi zurück? Wo sind sie?

Auf Anfrage beim Roten Kreuz in Arolsen erfuhren wir, dass beide kurz hintereinander nach Auschwitz-Birkenau deportiert und nach Ankunft des Zuges in den Gaskammern ermordet worden waren. Diese Nachricht hat tief in unser Leben eingegriffen. Unser lieber Vater, der nie einem etwas zu leide getan hat, war ein herzensguter Mensch mit einem hohen Standard für ethische und humane Moralität.

Die Jahre vergingen, die Trauer und die leeren Plätze blieben. Die Erinnerungen verdichteten sich. Wir mussten ja weiter, um uns eine neue Existenz aufzubauen. Mutter blieb in all den Jahren eine feste Burg für uns Kinder.

So war der Traum von Vater zu seinem Ende gekommen. Er hat die Gründung des Medniat Chadash Erez Israel (des neuen Staates Israel) nicht mehr miterleben können.

Aber den Auftrag, ins gelobte verheißene Land der Väter zu reisen, habe ich 1981 erfüllt. Denn so lautete die Bitte von Vater an mich: "Du musst nach Erez Israel".

1983 hatte ich den Mut, in Auschwitz-Birkenau Kaddisch zu sagen für Vati und Trudi. Hier wurden sie ermordet und aus dem Leben gerissen. Was haben sie durchleben müssen in den drei Tagen auf ihrer Fahrt in ein unbekanntes Ziel? Ich habe versprochen, dass sie nie in Vergessenheit geraten werden, als ich die Pforte, über der steht "Arbeit macht frei", durchschritt.

Ihre Namen und die der Ermordeten von der Kehilla Jehoedem (Jüdischen Gemeinde) sollten weiter leben. Es ist uns gelungen, ihre Namen in der neuen Synagoge einzulassen, so dass sie teilhaben werden an der Kehilla Chadash (Neuen Gemeinde) in Aachen.

Es sind viele Jahre, die Papa bei uns war. Für mich persönlich waren es die Jahre von meiner Geburt bis zum 9. – 10. Lebensjahr. Aber das waren auch Jahre von großer Intensität: Zusammen leben, miteinander, die Wärme, die Herzlichkeit, die von ihm ausging. Die Geborgenheit, meine kleine Hand in seiner großen Hand. Fragen, die er beantworten konnte.

Dies Geschriebene ist nur ein Resümee von einem Menschen, der leben wollte für seine Familie, die er über alles liebte. Ein einfacher Mensch, der nicht im Scheinwerferlicht auftrat. Aber der den Respekt von seinen Mitmenschen bekam und der zu seinem Glauben stand, der in seinem Leben einen großen Platz einnahm und den er an uns weiter gab: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Ende dieses kurzen Umrisses von unserem Vater Leonard Lipmann Pakula.